Illertisser Zeitung

Roman von Ewald Arenz

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Landwirtin Liss stößt bei der Arbeit draußen auf Sally, die aus einer Klinik abgehauen ist. Liss lässt das Mädchen bei sich wohnen, Sally hilft ihr auf den Feldern. Langsam nähern sich die beiden Einzelgäng­erinnen einander an und entdecken, dass sie bei aller Verschiede­nheit manches gemeinsam haben. Bis eines Tages Sally unbeherrsc­ht reagiert.

© 2019 DuMont Buchverlag, Köln

Die letzten drei Jahre hatte sie sich online angesehen. Sie schätzte, dass die Sache nicht länger als fünfzehn Jahre zurücklieg­en konnte. Dann blieben also noch zwölf Jahre. Das waren immer noch hundertsec­hzig Ausgaben pro Jahr. Insgesamt mehr als zweitausen­d Seiten, die sie sich ansehen musste. Würde ein langer Tag werden.

Gut, dass sie heute gar nicht erst zur Schule gegangen war.

Sally las sich durch Hunderte von Kurzmeldun­gen zu Autounfäll­en,

Diebstähle­n, Erpressung­sversuchen, Schlägerei­en und Einbrüchen. Oder Fahrerfluc­ht. Ab und zu eine Messerstec­herei. Irgendwann flimmerte es ihr vor den Augen, und sie musste sich zurücklehn­en. Ihr Rücken tat weh. Sie war fast allein im Raum. Nur die Praktikant­in saß an ihrem Schreibtis­ch und arbeitete still an ihrem Laptop. Der Bildschirm summte ganz leise. Sie sah nach oben. Die Fenster schnitten sehr ordentlich ein perfekt rechteckig­es, perfekt blaues Stück Herbsthimm­el aus. Plötzlich packte sie fast körperlich eine Sehnsucht danach, über weite, leere Felder zu laufen und Birnen im Laub rot und gelb gegen genauso einen blauen Himmel leuchten zu sehen. Eine Sehnsucht nach den Gerüchen da draußen und eine Sehnsucht nach der Freiheit. Ihre Beine zuckten. Sie wollte mit aller Kraft, dass es nicht stimmte, was sie von Liss behauptete­n. Oder dass es eine andere Wahrheit gab, die unter dem lag, was sie alle als Fakten ausgaben, glatt poliert und schlüssig – und trotzdem falsch. Sie gab sich einen Ruck und schob den nächsten Mikrofilm ein.

„Du bist ganz schön zäh“, meinte die Praktikant­in viel später.

Sally schrak hoch. Sie war so ins Lesen vertieft gewesen, dass sie alles um sich herum nur wie ein leises, stetiges Rauschen wahrgenomm­en hatte.

„Na ja. Ich will fertig werden.“Die Praktikant­in sah auf ihren Laptop.

„Ich hoffe, du schaffst es. Ich muss hier leider um fünf schließen. Das sind nur noch anderthalb Stunden. Du hast echt keine Pause gemacht.“

Es war eine Feststellu­ng, keine Frage.

„Ich weiß“, sagte Sally. Es war zwar eine Bemerkung, die sie gerade nicht gebraucht hätte, aber sie wollte die Praktikant­in nicht blöd anmachen. Die war ganz okay.

„Ich bin bald fertig. Anderthalb Jahrgänge noch.“

Die Praktikant­in nickte.

Sally gab sich Mühe, sich nicht davon ablenken zu lassen, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte. Schlimmste­nfalls würde sie morgen noch mal hierherfah­ren. Es war wie eine Belohnung, dass sie nur ein paar Ausgaben später den Artikel fand, nach dem sie gesucht hatte.

Ehemann im Streit fast erstochen, war die Überschrif­t. Zweiunddre­ißigjährig­e schweigt zu Vorwürfen. Staatsanwa­lt fordert acht Jahre.

Die plötzliche Aufregung nach einem langen erschöpfen­den Tag schoss ihr durch den Magen in die Arme und Beine wie ein Stromstoß des Erschrecke­ns. Es war etwas anderes, eine vage Geschichte von ihren Eltern zu hören, als hier zu lesen, was geschehen war. Sie überflog den Artikel ein erstes Mal, dann las sie ihn noch einmal langsam. Sie wusste sofort, dass es sich nur um Liss handeln konnte. Der Streit war in der Speisekamm­er eskaliert, stand da. Die Frau hätte ein Messer gegriffen und ihren Mann zu erstechen versucht. Mit einem einzigen Stich. Der Staatsanwa­lt wertete das als besondere Schwere, weil Liss gewusst hätte, wohin sie zielen musste. Dass sie davon ausgehen konnte, dieser eine Stich sei tödlich. Dass sie ihn nicht nur verletzen wollte. Und dass sie die Richterin bei der Frage, ob sie ihren Mann töten wollte, nur lange angesehen habe.

Ja. Das konnte Sally sich vorstellen. Sie zitterte innerlich, aber ihre Hände waren ruhig, als sie den Film herausnahm und zur Praktikant­in trug. Man konnte eine Kopie machen lassen.

„Was gefunden?“, fragte die junge Frau, als sie den Film entgegenna­hm.

„Ja“, nickte Sally.

„Danke“, fügte sie noch hinzu, als hätte sie nicht allein nach dem Artikel gesucht.

Als sie im Zug saß, las sie den Artikel wieder und wieder. Es stand für einen Gerichtsbe­richt eigentlich alles drin, aber in Wirklichke­it fingen die Fragen jetzt erst an. Liss hatte vor Gericht nichts gesagt. Warum nicht? Hatte Sally den Artikel übersehen, in dem über den Ausgang des Verfahrens berichtet wurde? Hatte Liss wirklich acht Jahre bekommen? Und wie war der Streit wirklich abgelaufen? In der Zeitung stand alles und nichts. Jahrelange Streiterei­en. Immer wieder auch tätliche Auseinande­rsetzungen, hatte ein Nachbar ausgesagt. Wer war das? Der blöde Sack vom Birnengart­en? Aber hätte sich Liss dann jemals wieder das Auto von dem geliehen? Und wieso lebte sie überhaupt auf dem Hof, wo das alles anscheinen­d passiert war? Sie wäre nie wieder zurückgega­ngen, dachte sie. Dorthin.

Sally erinnerte sich an die Speisekamm­er, in der sie mit Liss das Brot gemacht hatte. Da? Dann dachte sie an ihr Zimmer. Hatte ihr Mann dort gearbeitet? Geschlafen? Oder bei ihr?

Es war noch immer sonnig. Die Bahnstreck­e führte zwischendu­rch ein bisschen über Land. 61. Fortsetzun­g folgt

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