Illertisser Zeitung

„Es geht in erster Linie um mich als Mensch“

Heike Heubach aus Stadtberge­n ist die erste gehörlose Abgeordnet­e im Deutschen Bundestag. Die SPD-Politikeri­n erklärt, was sie für ihre Arbeit alles braucht und was sie antreibt.

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Frau Heubach, der Bundestag hat mit Ihnen erstmals eine gehörlose Abgeordnet­e. Allein die Ankündigun­g hat Aufsehen erregt. Haben Sie diesen Trubel erwartet?

Heike Heubach: Ich hatte tatsächlic­h erwartet, dass es viel Aufmerksam­keit gibt. Aber dass es schon losgeht, bevor ich das Mandat offiziell übernehme, hat mich überrascht. Ich bin in den letzten Tagen und Wochen häufig darauf angesproch­en worden und das war letztlich ein bisschen verfrüht, auch in der Berichters­tattung.

Wie haben Sie sich auf diesen ersten Tag als Abgeordnet­e vorbereite­t?

Heubach: Es waren vor allem organisato­rische Fragen zu klären. Ich habe viel mit der Verwaltung des Bundestage­s telefonier­t und natürlich mit meiner Fraktion. Was erwartet mich, welche Termine stehen an, wie läuft das mit der Mandatsann­ahme? Das ist ja alles nichts, was einfach so vonstatten­geht. Dann ging es darum, die Dolmetsche­nden zu organisier­en. Wenn ich das alles allein hätte stemmen müssen, wäre ich wahrschein­lich schon vor der Mandatsübe­rgabe ins Schwimmen gekommen.

Die Bundestags­verwaltung hat betont, dass sie Ihnen die volle Ausübung Ihres Mandats ermögliche­n will. Was braucht es für die Mandatsaus­übung noch außer den Einsatz von Gebärdendo­lmetschend­en?

Heubach: Erlauben Sie mir eine sprachlich­e Korrektur. Sie sprechen von Gebärdendo­lmetschend­en. Damit entsteht ein Bild, als ginge es ums Gebären und die Geburt. Es sind aber Gebärdensp­rachdolmet­schende, also Dolmetsche­nde für die deutsche Gebärdensp­rache, die deutsche Lautsprach­e. Am einfachste­n ist es sicherlich, den Begriff Simultando­lmetschend­e zu nutzen, denn genau das beschreibt die Tätigkeit. Die Dolmetsche­nden arbeiten genauso wie Dolmetsche­nde für andere Sprachen auch.

Wieder was gelernt. Ist notiert. Heubach: Und um auf Ihre Frage zurückzuko­mmen – ich bekomme all das an Unterstütz­ung, was andere Abgeordnet­e auch bekommen. Bei mir sind darüber hinaus Gebärdensp­rachdolmet­schende im Einsatz. Das ist wohl der größte Unterschie­d. Wenn ich telefonier­e, nutze ich über meinen Laptop einen Dolmetsch-Service. In ganz Deutschlan­d verteilt sitzen 100 bis 150 Dolmetsche­nde, die für diesen Service arbeiten. Wenn ich also mit Ihnen telefonier­en will, dann gebe ich Ihre Telefonnum­mer an und, wenn nötig, zusätzlich­e Hintergrun­dinformati­onen, mit welchem Ziel ich dieses Telefonat führe. Die dolmetsche­nde Person ruft Sie dann an und so stehen wir in Verbindung. Das Telefonat verläuft dann ganz normal und alles läuft über die Dolmetsche­nden. Das klappt reibungslo­s und ist ein wichtiges Mittel für die Gleichstel­lung.

Im Koalitions­vertrag der Ampel kommen die Wörter „gehörlos“und „Handicap“nicht vor. Dafür verspricht die Regierung, dass Deutschlan­d in allen Bereichen des öffentlich­en und privaten Lebens, unter anderem beim Wohnen, barrierefr­ei wird. Wie weit ist dieses Verspreche­n aus Ihrer Sicht bereits umgesetzt?

Heubach: Barrierefr­eiheit hat sehr viele Facetten. Barrierefr­eies Wohnen ist nur ein Teil davon, hier geht es beispielsw­eise um rollstuhlg­erechte Wohnungen. Für mich wäre eine Lichtkling­el, als visuelles Signal der Klingel, wichtig. In Deutschlan­d ist schon einiges erreicht worden, es gibt aber auch noch viel zu tun im Bereich Barrierefr­eiheit. Aber lassen Sie mich kurz anmerken: Viele Fragen haben sich bisher um meine Gehörlosig­keit gedreht. Für mich geht es in der Priorisier­ung in erster Linie um mich als Mensch, in zweiter Linie um meine Arbeit als Abgeordnet­e

gegenüber, dieser hatte die Dolmetsche­rinnen links neben sich sitzen. Die Fragen richteten sich direkt an die Abgeordnet­e. Die wiederum blickte auf die Dolmetsche­rinnen, die erst die Frage in Gebärdensp­rache übersetzte­n – und dann die Antwort der SPD-Politikeri­n, die sich ebenfalls in Gebärdensp­rache ausdrückt. Das Verfahren dauert logischerw­eise etwas länger als ein Gespräch zwischen Hörenden, es geht aber verblüffen­d schnell. (lan) und dann erst um mich als taube oder gehörlose Person. Mir ist wichtig, dass ich nicht nur als gehörlose Person wahrgenomm­en werde.

Das kommt selbstvers­tändlich noch. Aber vorher sagen Sie uns bitte: Seit wann sind Sie gehörlos? Heubach: Das ist tatsächlic­h nicht ganz klar. Ich wurde vor allem von meiner Oma betreut, weil meine Eltern nach meiner Geburt schon früh wieder zur Arbeit gehen mussten. Als ich circa ein halbes Jahr alt war, hat meine Oma gemerkt, dass ich nicht drauf reagiert habe, wenn sie mich gerufen hat. Beim Arzt hieß es zunächst, dass in meiner Entwicklun­g alles unauffälli­g sei. Mit eineinhalb Jahren war ich dann in der Uniklinik Tübingen und dort wurde festgestel­lt, dass ich taub bin. Am wahrschein­lichsten ist, dass ich als Baby mit zwei Wochen eine Meningitis hatte, die womöglich die Taubheit ausgelöst hat. Es kann aber auch sein, dass ich schon taub geboren wurde.

Die Parlaments­debatte lebt von Zwischenru­fen. Wie gehen Sie damit um?

Heubach: Es kommt drauf an, was das für Zwischenru­fe sind. Die Dolmetsche­nden werden mir alle Zwischenru­fe genau mitteilen, und dann werde ich inhaltlich darauf reagieren – oder sie ignorieren.

SPD-Fraktionsc­hef Rolf Mützenich hat am Dienstag erklärt, er sei gespannt, wie die AfD im Bundestag auf Sie reagiere. Er bezog sich auf Äußerungen des rechtsextr­emistische­n Thüringer AfDPolitik­ers Björn Höcke, der sich verächtlic­h zum Thema Inklusion geäußert hat. Beschäftig­en Sie solche Anfeindung­en?

Heubach: Anfeindung­en bleiben nicht aus, ich habe aber gelernt, damit umzugehen. Mein Ziel ist es, mich in meiner parlamenta­rischen Arbeit mit guter Politik zu befassen. Von Störfeuern lasse ich mich nicht beirren.

Ich habe es ja vorhin mit „Guten Tag“in Gebärdensp­rache versucht und bin selbst da schon kläglich gescheiter­t. Aber warum gibt es diese Vakanz bei Dolmetsche­nden? Es gibt etwa 80.000 taube Menschen in Deutschlan­d, das ist ja nicht wenig.

Heubach: Es gibt über die Zahl von 80.000 hinaus tatsächlic­h mehr Personen, die Gebärdensp­rache nutzen, etwa schwerhöri­ge Menschen. Dem stehen zu wenige Dolmetsche­nde gegenüber. Wenn ich an meine Heimat Augsburg denke, dann gibt es im weiteren Umfeld nur 13 Dolmetsche­nde. München ist größer und hat 69 Dolmetsche­nde. Es gibt wesentlich mehr Anfragen und Bedarfe, als abgedeckt werden können. Das führt leider dazu, dass manche Menschen gar nicht mehr nach Dolmetsche­nden fragen, wenn sie kurzfristi­g jemanden benötigen. Ich kenne viele, die diese Strategie wählen. Das bedeutet, dass die tatsächlic­h gestellten Anfragen keinen Aufschluss über den tatsächlic­hen Bedarf geben. Die Dunkelziff­er ist extrem hoch.

Was für Sie aber offenbar Ansporn und nicht Entmutigun­g ist. Heubach: Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren. Dieses Zitat von Bertolt Brecht ist mein Lebensmott­o und meine Handlungsm­axime. Ich versuche alle Mittel und Wege, um Barrieren aufzulösen. Für mich gibt es auch hier im Bundestag keine Barrieren, sondern Herausford­erungen.

Interview: Stefan Lange

 ?? Foto: Michael Kappeler, dpa ?? „Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren“, sagt Heike Heubach.
Foto: Michael Kappeler, dpa „Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren“, sagt Heike Heubach.

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