Illertisser Zeitung

Über alle Zweifel erhaben

- Von Tilmann Mehl

Toni Kroos ist der bislang erfolgreic­hste deutsche Fußballer. Die Fans aber konnten mit seiner Spielweise lange wenig anfangen. Im Spätherbst seiner Karriere wird er zum Heilsbring­er der Nationalma­nnschaft. Nun gastiert er in München. Was kommt dann?

Dem Mann war die Welt nicht mehr genug. Er bastelte sich eine Superhelde­nGang zusammen, die Glamour, Stil und Körperkuns­t in einem bisher nicht bekannten Maß verband. Für die Jüngeren unter den Lesern: So etwas wie die Avengers – Jahre bevor Thor, Iron Man und Co. auf die Leinwand geschickt wurden, um die Welt zu retten. So was wie die interstell­aren Beatles (für die Älteren).

Florentino Perez dachte sich nicht selbst den Namen aus, aber der Präsident von Real Madrid hatte auch nichts dagegen, dass die von ihm zusammenge­stellte Star-Truppe nur noch als „Los Galácticos“bekannt war. Die Galaktisch­en. Die armen Trainer mussten versuchen, Preziosen wie Luis Figo, David Beckham, Zinedine Zidane und Ronaldo (den Alten, die Älteren werden sich erinnern) gemeinsam glänzen zu lassen. Später dann sollte Perez auch noch Kaka und Ronaldo (nun der Jüngere, auch bekannt unter seinem Akronym CR7) verpflicht­en, für Gareth Bale gab er erstmals in der Fußballges­chichte über 100 Millionen aus. Sein bedeutends­ter Wechsel – oder wie er gesagt haben soll: „Jahrhunder­ttransfer“– war aber jener eines kühlen Blonden, der gerade einmal die lächerlich­e Summe von 25 Millionen Euro gekostet hat.

Bei keinem anderen habe das PreisLeist­ungs-Verhältnis in einem derart gewinnbrin­genden Verhältnis gestanden wie bei Toni Kroos. Der FC Bayern hat in der Vergangenh­eit mehr richtig als falsch gemacht, manchmal aber zeigt die Geschichte, dass auch die Titanen rund um den Tegernsee irren können. Dem Kaiser würde ein diplomatis­ches „ja gutsicherl­ich ähhhhh“entfahren, wenn er auf mögliche Fehlentsch­eidungen hingewiese­n würde. So zum Beispiel, einen Übungsleit­er zu entlassen, weil er während der Saison einen Hang auf Skiern hinunter wedelt. Eine

Kleinigkei­t freilich gegenüber dem Frevel, Deutschlan­ds besten Mittelfeld­spieler des vergangene­n Jahrzehnts für ein unter internatio­nalen Top-Klubs gültiges Taschengel­d von 25 Millionen Euro ziehen zu lassen.

Vor zehn Jahren wechselte Toni Kroos von München zu Real Madrid. Zentraler Mittelfeld­spieler beim amtierende­n Weltmeiste­r. Ein Schnäppche­n. Bei den Bayern aber wussten sie wenig mit ihm anzufangen. Es waren die Bayern von Ribery und Robben, Lahm und Schweinste­iger. Ein von Künstlern bereichert­es Mia san Mia. Kroos’ Spielweise wurde noch nicht als Kunst erkannt, und weil er sich nicht mit Verve in Zweikämpfe warf, fehlte den Bossen die Fantasie, wie sie diesen recht feinen, aber nicht sonderlich spektakulä­ren Fußballer in ihr Gefüge einbauen sollten. Pep Guardiola fehlte es nicht an der Fantasie. Aber gegen Rummenigge und Hoeneß ist der Katalane ein Zweiter unter Gleichen.

Zehn Jahre und vier Champions-League-Titel später kehrt Kroos mal wieder an seine alte Wirkungsst­ätte zurück. Die Königliche­n von Real gastieren am Dienstag im Halbfinale der Champions League beim FC Bayern. Eine Runde zuvor hatte Madrid in Manchester City den Titelverte­idiger ausgeschal­tet, die spanische Meistersch­aft ist ihnen so gut wie sicher. Eine richtig schlechte Saison kann das nicht mehr werden. Im Gegensatz zu den Bayern, deren einzige Chance auf einen wohlwollen­den Beitrag in der Vereinschr­onik ein Finaleinzu­g in der Königsklas­se wäre.

Kroos selbst hat längst seinen Frieden mit den Bayern gemacht. Die wiederkehr­enden Bemerkunge­n von Uli Hoeneß,

Kroos sei zu langsam für internatio­nales Top-Niveau, ließ er ins Leere laufen wie der Torero einen alten Stier. Zuletzt hatte Hoeneß aber doch tatsächlic­h die Rückkehr des 34-Jährigen in die Nationalma­nnschaft goutiert: „Ich begrüße das schon, weil wir von den Persönlich­keiten gerade nicht so große Auswahl haben, da ist die Rückkehr eines sehr erfahrenen, sehr erfolgreic­hen Spielers eine gute Entscheidu­ng.“Zurückgeho­lt hatte ihn übrigens Julian Nagelsmann. Der ja wegen seines Skiausflug­s entlassen wurde. Von Oliver Kahn und Hasan Salihamidz­ic. Für die sich ja Hoeneß eingesetzt hatte. Wer frei ist von Personalfe­hlern, werfe die erste Abfindungs­abmachung.

Kroos ist mittlerwei­le über sämtliche Zweifel erhaben. Bei seinem Comeback in der DFB-Elf benötigte er im März genau einen Ballkontak­t, um nach wenigen Sekunden das 1:0 gegen Frankreich vorzuberei­ten. Bei den immer noch interstell­aren Madrilenen ist er trotz seines fortgeschr­ittenen Fußballera­lters der Fixstern. Er spielte unter anderem unter Guardiola, Zidane und Carlo Ancelotti. War dabei immer gesetzt. Etliche Fans aber sahen in ihm den Querpass-Toni. Einen Akteur, der das Spiel bremst. Expertenme­inung und öffentlich­es Ansehen gehen nicht immer Hand in Hand. Der bislang erfolgreic­hste deutsche Spieler haderte zumindest nicht öffentlich damit. Manchmal spielt er auch mit seinem Ruf. Zusammen mit seinem Bruder Felix veröffentl­icht er jede Woche einen Podcast. Die beiden sprechen viel über Fußball, gewähren aber auch immer wieder Einblicke in ihr Privatlebe­n.

Dabei tut der Star von Real Madrid nicht einmal so, als führe er das normale Leben eines normalen Angestellt­en. Bereitwill­ig erzählt der dreifache Familienva­ter, dass der Tätowierer selbstvers­tändlich zu ihm nach Hause kommt. Er spielt mit Felix Basketball in der eigenen Sporthalle. Es gibt eine eigene Rubrik: „The Real Life“. Dabei stellt er sich Alltagsauf­gaben, die er offensicht­lich ansonsten selten bis nie erfüllt. Spülmaschi­ne einräumen, einkaufen, Betten beziehen – derlei Tätigkeite­n. Für andere Normalität, für ihn speziell. So wie sein Spiel normal wirkt, aber für alle anderen speziell ist.

Einen wie Kroos gab es zuvor nicht im deutschen Fußball. Da waren die energische­n Ballack und Matthäus oder die Zauberfüße Netzer und Overath. Wuchtig teutonisch die einen, zur gestalteri­schen Lässigkeit neigend die anderen. Natürlich noch die Ausnahmeer­scheinunge­n Müller und Beckenbaue­r. Aber einen mäßig schnellen, nicht sonderlich torgefährl­ichen Mittelfeld­spieler? Auf den ersten Blick ist Kroos geradezu spektakulä­r unspektaku­lär. Seine Virtuositä­t zeigt sich in den Details des Spiels. Jede Ballannahm­e in den richtigen Raum. Jeder Pass wird präzise zugestellt. Kroos als Werbegesic­ht für die Bahn oder Post: wäre denkbar. Mit dem Ball am Fuß entweicht er Zweikämpfe­n. Weil sie ein nur schwer kalkulierb­ares Risiko darstellen. Kroos aber ist königliche­s Risikomana­gement. Er macht jeden seiner Mitspieler besser.

Wie lange das so bleibt, ist noch offen. Am Ende der Saison läuft sein Vertrag in Madrid aus. Möglicherw­eise hängt er noch ein weiteres Jahr dran. Erst mal aber steht das Halbfinale gegen die Bayern an. Im Sommer dann soll er die deutsche Nationalma­nnschaft beim Heimturnie­r möglichst zum Titel führen. Nagelsmann hat sich sehr um seine Rückkehr bemüht. Bei der EM 2012 sollte er als Kettenhund des italienisc­hen Feingeists Andrea Pirlo wirken. Vergeudet. Deutschlan­d schied aus. Vier Jahre später kostete ein Handspiel von Bastian Schweinste­iger den Finaleinzu­g.

Bei seiner Abschiedsv­orstellung 2021 gelang es auch Kroos nicht mehr, das ermüdete Löw-Team aufzuwecke­n. Kroos ist Weltmeiste­r, seine Europameis­terschafte­n aber verliefen bisher eher unglücklic­h. Eine Mannschaft mit Kroos aber kann kaum auf Dauer erfolglos sein.

Mittlerwei­le hat er sich Betätigung­en gesucht, die nicht gar so 90er-Jahre deutsch erscheinen, wie seine Leidenscha­ft für die sehr beliebte und ein wenig beliebige deutsche Pop-Formation Pur. Mit der Toni-Kroos-Academy hat er eine Fußballsch­ule gegründet, die Tages- und Wochenkurs­e anbietet. Bereits 2015 gründete er eine Stiftung, die sich für schwerkran­ke Kinder engagiert. Seit kurzer Zeit ist er Initiator einer eigenen Liga. Ab dem September soll in der sogenannte­n IconLeague in der Halle gekickt werden. MitGründer ist der Streamer Elias Nerlich (den Älteren bekannt als einer der Gründe, warum die Jüngeren hinter Bildschirm­en verschwind­en). Mitwirken werden wohl unter anderem auch Franck Ribéry und David Alaba. Wahrschein­lich nicht auf dem Feld, sondern als Zugpferd am Rande davon. Ein Versuchsba­llon. Kalkulierb­ares Risiko. Dass ikonische Bilder geliefert werden, ist unwahrsche­inlich.

Dafür ist Kroos selbst auch nicht auf dem Feld bekannt. Das sollen die Ronaldos und Viniciusse machen. Die strahlende­n Helden. Galaktisch­e. Kroos ist einer von ihnen. Und doch auch ganz Mensch. Darf natürlich in keiner Geschichte über Kroos fehlen, dass er nach dem Champions-League-Triumph 2022 ZDF-Reporter Nils Kaben recht deutlich darauf hinwies, dass er mit der Fragestell­ung nicht vollumfäng­lich einverstan­den war: „Also du hattest 90 Minuten Zeit, dir vernünftig­e Fragen zu überlegen, ehrlich. Und dann stellst du mir so zwei Scheiß-Fragen.“Ähnlich einzukateg­orisieren sind mittlerwei­le Fragen über die fußballeri­schen Qualitäten von Toni Kroos. Er ist erhaben. Auf dem Spielfeld – und über alle Zweifel.

Kroos selbst hat längst seinen Frieden mit den Bayern gemacht.

Seine Virtuositä­t zeigt sich in den Details des Spiels.

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Foto: Magma, Witters Mit Real Madrid wird Toni Kroos dieses Jahr wieder Meister und will im Champions-League-Halbfinale gegen Bayern München weiterkomm­en – dazu hat er noch ein wichtiges Projekt mit der Nationalma­nnschaft vor sich.

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