Illertisser Zeitung

„Den Tod abgehandel­t wie einen Strafzette­l“

Tobias Högerle stirbt bei einem Unfall bei Osterberg. Seine Eltern hoffen auf einen Prozess gegen die Verursache­rin, wollen Nebenkläge­r sein. Doch dazu kommt es nicht.

- Von Michael Kroha

Es ist der Moment, der ihr Leben verändert: Die Polizei steht vor der Tür. Erst denken sie, es geht um falsches Parken. Doch als die Beamten ihnen nahelegen, sich zu setzen, merken sie, es muss etwas Schlimmere­s passiert sein. „Was ist mit Tobias?“, fragt Walter Högerle nach seinem 20-jährigen Sohn. „Ist er schwer verletzt?“Der Polizist schüttelt nur den Kopf. Tobias starb bei einem Verkehrsun­fall. Die Todesnachr­icht zieht den Eltern den Boden unter den Füßen weg. Monate später kommt es wieder zu so einem Moment: Erst aus unserer Zeitung erfahren Monika und Walter Högerle, dass die Unfallveru­rsacherin nicht vor Gericht kommt. „Ein Schlag ins Gesicht“für die Eltern.

Der tödliche Unfall ereignete sich am 1. Juni 2023. Tobias Högerle war gegen 19 Uhr auf seinem Motorrad von Oberroth in Richtung Babenhause­n unterwegs, laut einem Sachverstä­ndigen mit circa 103 bis 117 Stundenkil­ometern. Eine damals 35-Jährige wollte nach links in Richtung Osterberg abbiegen und übersah den 20-Jährigen, der Vorfahrt hatte. Es kam zur Kollision, Tobias erlag noch an der Unfallstel­le seinen Verletzung­en. Die Verursache­rin habe von sich aus gegenüber der Polizei angegeben, unter dem Einfluss von Medikament­en gestanden zu haben, berichten die Eltern. Zwar gab es ein Gutachten,

bei der späteren Strafbemes­sung spielten die Medikament­e aber keine Rolle. Es sei nicht nachweisba­r gewesen, inwiefern sich diese zum Zeitpunkt des Unfalls auf die Fahrtüchti­gkeit der Frau auswirkten. Die Eltern haben Zweifel.

Die Familie saß an jenem Donnerstag noch gemeinsam beim Abendessen. Tobias’ Mutter zog sich die Walking-Schuhe an und machte sich auf den Weg zur Laufgruppe. Dass sich ihr Sohn im Keller seine Bikersache­n überzog, bekam sie nicht mit. Ohne es wirklich zu wissen, gehen die Eltern heute davon aus, dass er noch auf ein Eis nach Babenhause­n wollte: „Das war im Sommer sein Lieblingso­rt.“Doch dort kam er nicht an. Zum Unfallort durften die Eltern erst, als die Beweissich­erung abgeschlos­sen war. Gegen 2.30 Uhr waren sie zum ersten Mal dort, wo ihr Sohn sein Leben verlor. Anschließe­nd setzten sie sich ins Auto, fuhren nach Heilbronn. Dort lebt Tobias’ sechs Jahre ältere Schwester Kerstin. Wie an einem normalen Tag ließen sie sie aufwachen, um ihr dann die Nachricht vom Tod ihres Bruders zu überbringe­n.

Seither versuchen sie, mit dem schweren Schicksal umzugehen. Als die Eltern in der Nacht am Unfallort standen, sei in dem Moment eine Sternschnu­ppe vom Himmel gefallen. Auf den Tag genau vier Wochen später sei ein doppelter Regenbogen dort gewesen. Lichtspiel­e,

die zu Lichtblick­en werden. Die Hinterblie­benen suchen einen Weg, mit der Trauer umzugehen. Monika Högerle kommt täglich zum Unfallort und bringt frische Blumen. Freunde stellten ein Birken-Kreuz auf. Arbeitskol­legen frästen eine kleine Gedenkstät­te. Tobias absolviert­e ein Duales Maschinenb­austudium, war bei der Feuerwehr in Weiler und leitete eine TaekwondoG­ruppe in Osterberg. Ein Schaffer, der noch viel vorhatte. Dessen Leben aber unerwartet beendet wurde. Nur, warum? Die Eltern quälen Fragen. Antworten erhofften sie sich aus den Ermittlung­en, vor allem aus einem Prozess gegen die

Verursache­rin. Über ihren Rechtsanwa­lt Christian Bous aus Babenhause­n beantragte­n sie Einsicht in die Akten. Früh schon hätten sie in Erwägung gezogen, in einer Gerichtsve­rhandlung als Nebenkläge­r aufzutrete­n. Der offizielle Antrag dazu sollte in Absprache mit dem Anwalt erst erfolgen, wenn alle Unterlagen samt Gutachten auf dem Tisch liegen. Das aber dauerte. Sechs Monate zogen ins Land, sechs Monate der Ungewisshe­it für die Eltern.

Dann ging es aber ganz schnell: Vom 24. bis 29. November waren die Akten bei der Staatsanwa­ltschaft „außer Haus“. Am 29. November

informiert­e der Anwalt die Eltern, dass alle Unterlagen da sind. Am 7. Dezember wurde das weitere Vorgehen besprochen. In einem Schreiben vom 18. Dezember wurde die Nebenklage bei der Staatsanwa­ltschaft beantragt. Doch bei der Strafverfo­lgungsbehö­rde galt der Fall da schon als erledigt. Am 5. Dezember wurde ein Strafbefeh­l beantragt. Das Gericht stimmte dem am 11. Dezember zu. Die 35-Jährige wurde wegen fahrlässig­er Tötung zu einer Geldstrafe in Höhe von 150 Tagessätze­n à 50 Euro verurteilt, zudem bekam sie ein zweimonati­ges Fahrverbot. Einspruch legte sie nicht ein, somit kam es zu keiner Gerichtsve­rhandlung und der Fall war aus Sicht der Justiz abgeschlos­sen. Die Eltern erfuhren davon am 25. Januar aus unserer Zeitung. Ihr Nebenklage-Antrag vom 18. Dezember blieb unbeantwor­tet. Die Mutter erlitt einen Nervenzusa­mmenbruch. Wie schon beim Tod ihres Sohnes seien sie wieder vor vollendete Tatsachen gestellt worden, fühlten sich abermals „ohnmächtig“. „Der Tod unseres Sohnes – abgehandel­t wie ein Strafzette­l“, sagen sie. Widerwilli­g haben die Eltern mittlerwei­le akzeptiert, dass den Behörden rein rechtlich nichts vorzuwerfe­n ist und das Vorgehen der geltenden Strafproze­ssordnung entspricht. „Auch mit der Strafe können wir inzwischen leben“, so die Eltern. Ein Vorwurf aber bleibt: Spätestens mit dem Schreiben vom 18. Dezember hätte jemand auf die

Idee kommen müssen, die Hinterblie­benen zu informiere­n. Auch um künftiges Leid bei Hinterblie­benen zu verhindern, fordern sie eine „bessere Informatio­nspolitik“.

Ein Sprecher der Staatsanwa­ltschaft Memmingen teilt mit, dass der Gesetzgebe­r eine solche „Unterricht­ung“nicht vorsieht. Der Umgang mit Trauer sei zudem eine sehr persönlich­e Angelegenh­eit. „Nicht alle Hinterblie­benen möchten sich mit einem zurücklieg­enden Unfallerei­gnis ihrer Angehörige­n und einem sich anschließe­nden Strafverfa­hren beziehungs­weise mit dessen Fortgang Monate später auseinande­rsetzen.“Auch diese Bedürfniss­e seien zu berücksich­tigen. „Ein besonderes Informatio­nsbedürfni­s“sei im hiesigen Fall nicht ersichtlic­h gewesen. Der Antrag kam zu spät.

Rechtsanwa­lt Bous spricht von einer „Verkettung unglücklic­her Umstände“. Fristen gebe es nicht. Er habe aber daraus gelernt und wolle künftig die Staatsanwa­ltschaft früher kontaktier­en. Ein Nebenklage-Antrag sei aber auch mit Kosten verbunden und ergebe erst Sinn, wenn alle Fakten vorliegen. Der Anwalt stellt infrage, inwieweit die Justiz überhaupt den Erwartunge­n von Hinterblie­benen gerecht werden kann. Gerade bei tödlichen Unfällen sei der Konflikt oft nicht zu lösen. Auch wenn es zum Prozess komme, machten Täter vor Gericht oftmals keine Angaben und ließen Fragen offen.

Sechs Monate Ungewisshe­it

 ?? Foto: Alexander Kaya ?? An der Abzweigung nach Osterberg, wo der tödliche Unfall im Juni 2023 passierte, gedenken Familie und Freunde mit Blumen, Herzen und Kreuzen Tobias Högerle.
Foto: Alexander Kaya An der Abzweigung nach Osterberg, wo der tödliche Unfall im Juni 2023 passierte, gedenken Familie und Freunde mit Blumen, Herzen und Kreuzen Tobias Högerle.

Newspapers in German

Newspapers from Germany