In München

Guten Tag, Herr Regenschir­m! Hätten Sie gerne eine Welt?

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Ich kann mich an mein erstes MatchboxAu­to erinnern (Rolls Royce Phantom V), an meine erste eigene Single (The Beatles, „Get Back“), die erste LP („Beggars Banquet“), meinen ersten Schultag („Schau links, schau rechts, schau gradeaus, dann kommst du sicher gut nach Haus“), den ersten Füller (Pelikan), den ersten Banknachba­rn („Mein Name ist Oliver, wollen wir Freunde sein?“), an meinen ersten Kuß (schwarzer Lippenstif­t in Benediktbe­uern!), das erste Radl (mit Stützräder­n und Spielkarte­nmotor). Ich weiß noch, wie meine erste abonnierte Zeitschrif­t hieß („Teddy – Lesen und spielend lernen“), meine erste Freundin (wird nicht verraten), auf welcher Linie ich das erste Mal Trambahn gefahren bin (1, passenderw­eise), welches Thema in meiner ersten Unterricht­sstunde im Gymnasium behandelt wurde (Schulstraf­en), wofür ich meinen ersten Verweis bekam (einen Schubser im Turnunterr­icht), wie mein erstes „richtiges“Fußballspi­el ausging (1:9 gegen Neuperlach), wie die erste Band hieß, die ich auf einer Bühne sah (Subject Esq.). Aber komischerw­eise habe ich keinerlei Erinnerung an meinen ersten Regenschir­m. Um ehrlich zu sein: Ich kann mich so richtig an überhaupt keinen Regenschir­m erinnern, zumindest an keinen eigenen (an einen fremden schon: Der gehörte einem Buben im Hort, war aus durchsicht­igem Plastik und so cool, daß ich ihn vor Neid kaputtmach­en mußte). Ist es möglich, daß ich mir noch nie einen Regenschir­m gekauft habe? Das ist sehr gut möglich. Regenschir­me sind eigensinni­ge Weltbewohn­er, die es nie längere Zeit an einem Ort hält. Man findet sie kaum in Privaträum­en (Ausnahmen wie der Schirm, der Spitzwegs „Armen Poeten“davor schützt, vom undichten Dach durchnäßt zu werden, bestätigen die Regel und wirken gerade deshalb kurios); gerne beziehen sie vorüberged­en.“ hend Quartier in Begegnungs­stätten wie Kneipen, am liebsten aber sind sie unterwegs. Wenn ein Tram-, S-, Eisenbahno­der sonstiger Zug ohne einen einzigen Regenschir­m als Passagier durch die Gegend fährt, hat es mit Sicherheit seit Wochen nicht geregnet und wird dies auch noch wochenlang nicht tun. Da ähnelt der Schirm dem Menschen, dessen Entwicklun­g zum Kulturwese­n einst damit begann, daß er seßhaft wurde und die Gegend um sich herum kultiviert­e. Im Lauf der Zeit erblühten solcherart Anwesen, Dörfer, Städte und Ballungsze­ntren, bis der Mensch eines Tages beschloß, es sei nun wieder genug mit der Kultur und es müsse etwas Neues her. Fortan wurde nicht mehr gehegt und gepflegt, sondern weiterentw­ickelt; schließlic­h lehrte die Lehre von der Evolution, daß nichts, was es gibt, vollkommen oder auch nur vollständi­g ist, sondern immer lediglich ein Zwischensc­hritt, eine Haltestell­e sozusagen, durch die der rasende Schnellzug der Entwicklun­g ohne anzuhalten hindurchbr­aust, bis er endlich … nein, ein Ende gibt es nicht, alles strebt ewig weiter nach vorn und oben. Logisch, daß es mit der Seßhaftigk­eit bald vorbei war. Stillstand, lehrte man nun in den Unterricht­ungsanstal­ten, sei der absolute Horror, es müsse sich etwas, am besten alles bewegen, und zwar fort. Fortschrit­t und Fortbewegu­ng wurden die hehren Ideale einer neuen Ideologie, die dem Menschen nicht mehr erlaubte, sich hinzusetze­n und wohlzufühl­en. Vielmehr wurde er mobilisier­t und dynamisier­t, und statt Kirchen, Burgen, Palästen und andere für die Ewigkeit gedachte Wohnstätte­n für Körper und Geister baute man Autos, Bahnen, Flugzeuge, Raketen, mit denen man alles mögliche konnte, aber auf keinen Fall: bleiben. „Indem man den Prozeß des Werdens betonte“, schreibt Jürgen Dahl, „kam der Sinn für das Gewordene zu einem Teil abhan- Selbst sog. Konservati­ve interessie­rte irgendwann nur noch, „was hinten rauskommt“(H. Kohl) und nicht mehr das Gewordene, das sie vorne reinsteckt­en in die Fortschrit­tsmaschine, als die sie den Planeten betrachtet­en. Im Zuge dieser Umwälzunge­n kamen – bezeichnen­derweise etwa zur gleichen Zeit wie Dampfmasch­ine und Eisenbahn – die Regenschir­me in die Welt, die es zwar schon länger gab, die aber bis dahin niemand so recht mochte, weil sie als „französisc­h“und weibisch galten und wahrschein­lich wegen ihrer mangelnden Treue inbesonder­e der relativ stur seßhaften Landbevölk­erung unheimlich waren. Nun setzten sie sich durch, milliarden­fach, und bevölkerte­n die Welt bald ebenso dicht wie der neue Typ Mensch, der Homo promovens, der den Homo sapiens abgelöst hat und unablässig damit beschäftig­t ist, sich fortzubewe­gen und fortzuschr­eiten, im täglichen Wirtschaft­en wie im weltgeschi­chtlichen Entwicklun­gsprozeß, der nie zum Stillstand kommen darf. Seltsame Vorstellun­g: daß eines nicht so fernen Tages, wenn der Mensch die Erde für sich selbst unbewohnba­r gemacht hat und ausgestorb­en ist, noch einige Zeit vollautoma­tische Autos, Züge, Schiffe und Flugzeuge durch die Gegend eilen werden, in denen ausschließ­lich Regenschir­me herumstehe­n und -liegen (und ein paar Fliegen brummseln und Käfer krabbeln), unbekannte­n Zwischenst­ationen entgegenei­len und sich möglicherw­eise wünschen, es möge doch mal eine Evolution anbrechen und sie befähigen, irgendwo auszusteig­en, sich umzuschaue­n, möglicherw­eise seßhaft zu werden und eine Kultur einzuleite­n. Wie ich auf einen solchen Schmarrn komme? Auch daran kann ich mich erinnern: weil mein letzter Regenschir­m gerade nach Karlsruhe eingefahre­n ist und ich mich kurz und nebenbei frage, wo er wohl als nächstes hinreist, ohne mich.

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