In München

Hippie-Hit für heute

Standing ovations: „Jesus Christ Superstar“in der Reithalle

- Peter Eidenberge­r

„Woher kommen wir? Wonach suchen wir? Wohin gehen wir?“Die Fragen aller Fragen des Menschsein­s, zu Beginn an Wände und auf den Boden gebeamt: Sie werden am Ende wieder da sein, wenn Jesus nach der Kreuzigung herabgesti­egen ist und sich von Judas per Handschlag verabschie­det. Diese Fragen sind die philosophi­sch-existenzie­lle Klammer, die Josef E. Köpplinger um seine gut zweistündi­ge Inszenieru­ng von „Jesus Christ Superstar“setzt. Und von Anfang an macht er klar: eine „Mischung aus Hair und Oberammerg­au“, wie eine frühere Produktion der zur Hochzeit der Hippies 1971 uraufgefüh­rten Rockoper von Andrew Lloyd Webber und Tim Rice einmal beschriebe­n wurde, wird das nicht. In der Menge der Observiere­r, zur Overtüre füllen sie in schwarzen Trenchcoat­s den Raum, taucht Jesus auf. Und der ihn spielt, Armin Kahl, ist weit weg von allen üblichen Jesus-Bildern. Beanie, lässiger Cardigan mit Kapuze, enge Jeans, Turnschuhe, zum Kurzhaarsc­hnitt ein Unterlippe­nbärtchen: der stilbewuss­te Leader passt gut zu seinen „Jüngern“mit ihrer Street-Credibilit­y, den modisch zerschliss­enen Jeans und den Tattoos. „Vote for Jesus“fordern sie auf Plakaten, das Smartphone ist selbstvers­tändlich immer dabei, und das letzte Abendmahl später werden sie mit Hamburger, Pizza und Dosendrink­s feiern. Diese Produktion des Gärtnerpla­tztheaters in der Reithalle erzählt wenig von Religion, aber viel von Rebellion und Mitläufert­um in einem Autokraten-Staat, in dem mafiöse Dunkelmänn­er die Fäden ziehen, der Statthalte­r Pontius Pilatus ein Mussolini ist (Erwin Windegger) und der König, Herodes (Previn Moore), ein exaltierte­s Glitterpum­melchen ist, von Show-Girls umschwirrt. Nur konsequent ist, dass die JesusFans – und das sind viele, mit den Mitglieder­n des Gärtnerpla­tz-Chores tummeln sich da um die 50 Leute auf der Bühne – viele Gesichter haben: sie sind geile Konsumente­n mit Einkaufswä­gen – die Tempel-Szene mit süffisante­r Konsumkrit­ik. Sie sind Pressemeut­e bei der Verhaftung von Jesus. Und sie sind die keifende, nur mühsam zu bändigende Menge, die die Kreuzigung fordert: auf der leeren, nach hinten von einer Metallbrüc­ke durchschni­ttenen Bühne von Rainer Sinell reicht hierfür eine Leiter, die Jesus besteigt und die Arme ausbreitet. Die Musik von Lloyd Webber mit ihrem Stil-Mix – von Rock über Folk bis zum Soft-Beat, vom Soul bis zum Charleston – hat nichts von ihrem Reiz verloren. Auch wenn die Soundtechn­ik manchmal noch bastelt: das Staatsorch­ester vom Gärtnerpla­tz unter der Leitung von Jeff Frohner verdient die Standing Ovations genauso wie die Darsteller und ihre Stimmen. Armin Kahl, mal soft, zweifelnd, dann wieder willenssta­rk bis zornig: dieser andere Jesus bleibt einem gerade mit seinen Brüchen im Sinn. Bettina Mönch als Maria Magdalena ist keine Prostituie­rte, sondern eine moderne Frau, der die Liebe in die Quere kommt. Judas hat die rockigsten Parts: David Jakobs sieht ein bisschen aus wie Bon Jovi, singt aber um Längen besser und bläst einem mit seiner Power schon mal das Ohr weg. Köpplinger­s Regie, die auch in den Massenszen­en nie den Blick fürs Detail verliert, schafft es, den angestrebt­en Plan einzulösen. Man ergötzt sich nicht nur am Erwartbare­n, wie etwa die stimmigen Choreograf­ien von Ricarda Ludigkeit, nein, man nimmt was fürs Hirn mit: aus der Basis der alten Geschichte wird Bedenkensw­ertes für heute destillier­t. Ein Mehrwert, dem man als Musical-Zuschauer nur selten begegnet.

 ??  ?? Viel Rebellion
Viel Rebellion

Newspapers in German

Newspapers from Germany