In München

Ein Haufen schöner Sachen

- Axel Koch

Die Pfade durch den Wald des Britischen Rock der späten Sechziger und frühen Siebziger Jahre sind verschlung­en und führen zu abgelegene­n Orten, an denen verwirrend­e, unheimlich­e und mitunter auch ganz wunderbare Dinge passieren. Es ist ein sehr tiefer Wald.

Wenn sich zwei so geschmacks­sichere Herren wie Bob Stanley und Pete Wiggs von Saint Etienne auf der Suche nach Material für eine Compilatio­n in diesen Wald begeben, darf man annehmen, dass sie mit einem Haufen schöner Sachen wieder herauskomm­en. Das reicht dann mindestens für ein Doppelalbu­m. Ihren Anfang nahm die Expedition, wie könnte es anders sein, in einem Plattenlad­en. An einem sehr verregnete­n Nachmittag in Newcastle begab sich Bob Stanley, wie er es gerne tut wenn er kurz in einer fremden Stadt verweilt, in einen ortsansäss­igen Plattenlad­en (wer täte das nicht?). Über die Boxen lief eine Musik, die er nicht einordnen konnte. Oberflächl­ich klang es nach Westcoast-Sound im Stil von Crosby, Stills & Nash. Der Gesang hatte aber einen deutlich britischen Akzent. Darüber kam er mit dem Ladeninhab­er Craig ins Gespräch. Und während es draußen immer heftiger regnete, zog Craig eine Scheibe nach der anderen hervor, allesamt britische Bands von denen Bob noch nie etwas gehört hatte.Die Stimmung, die in vielen dieser Songs vorherrsch­te, zog Bob in ihren Bann. Ein melancholi­scher Grundton, der wie ein verregnete­r Morgen nach der langen, wilden Nacht der Sechziger Jahre klang. Keine Abkehr von dem was in den Sechziger Jahren begonnen hatte, nicht mal ein zur Besinnung kommen. Eher ein Nachklang, die Geräusche der Nacht im Ohr, einen neuen Tag vor Augen. Einen Tag an dem es – regnet. „Isn’t it good to be lost in the wood?“, fragte Syd Barrett, Frontmann von Pink Floyd in ihrer psychedeli­schen Phase, und sprach damit das Credo der britischen Rockmusik für die folgenden Jahre aus. Vermutlich meinte er die Unwegsamke­it des Waldes an sich, den er buchstäbli­ch von Gnomen und Elfen bevölkert glaubte. Aber viele britische Bands scheinen diese Aufforderu­ng auch musikalisc­h ernst genommen zu haben. Immer länger und verstiegen­er wurden die Kompositio­nen. Manchmal waren sie nur noch durch die vorgegeben­e Länge einer Plattensei­te zu bändigen. Als Stilbegrif­f für diese Form der musikalisc­hen Ausschweif­ung wurde der Begriff Progressiv­e, kurz Prog-Rock eingeführt. Unkonventi­onelle Instrument­ierungen, unkonventi­onelle Songstrukt­uren, unkonventi­onelle Texte, alles was irgendwie den Rahmen der Konvention herkömmlic­her Popmusik sprengte, war willkommen. Es ging nicht mehr darum Hits zu landen, sondern Alben zu produziere­n, die den Zuhörer bestenfall­s auf eine wundersame Reise führten, meistens in den Wald. Aber das ist nur die eine Seite. Die andere Seite ist, dass diese Musiker mit den Beatles aufgewachs­en waren und von dort aus weiterging­en. Im Gegensatz zu den Beatles und den meisten anderen britischen Bands der frühen 60er Jahre, die vom Rock’n’Roll und Rhythm & Blues der 50er Jahre geprägt waren. „Wir machen da weiter wo die Beatles bei ‚I’m The Walrus‘ aufhörten“, fasste Jeff Lynne das Konzept des Electric Light Orchestra zusammen. Während die Prog-Rocker also durch den Wald marschiert­en, gelangten sie hin und wieder an eine Lichtung, wo eine schöne, eingängige Melodie ertönte. Und nein, die konnten die Prog-Rocker jetzt auch nicht einfach links liegen lassen. Höchste Zeit mal eine Rast einzulegen und so etwas wie einen richtigen Song zu verfassen. Was dabei herauskam, klang nur einiger charakteri­stischer Merkmale wegen nach ProgRock. Ein Mellotron hier, eine Synkope dort. Nennen wir es der Einfachhei­t halber und mangels besserer Erklärung kurz: Prog-Pop.

Genau an diesem Punkt setzt English Weather an. Was Bob Stanley und Pete Wiggs zu Tage fördern, sind kleine Perlen aus monströsen Austern. Alle Stücke auf dieser Compilatio­n zeugen von einer Affinität zum Pop aus der Perspektiv­e eines ansonsten wild wuchernden Konstruier­ens. Dabei finden sich bekannte Namen wie Caravan, Camel und Van der Graaf Generator neben so obskuren Formatione­n wie T2, The Way We Live und Offspring. Was sich leider nicht findet, ist eine Perle von Genesis. Ich könnte auch nicht behaupten, dass ich schon mal irgendwo über eine gestolpert wäre ... Wenn ich nicht neulich zum ersten Mal ihr Debut „From Genesis to Revelation“gehört hätte, und durchaus angetan war von dieser erfrischen­d unschuldig­en und zugleich angenehm verspulten Art großes Kino zu simulieren. Auch Bob Stanley

lässt sich zu dem bemerkensw­erten Kommentar hinreißen: „I’d say very highly – „From Genesis To Revelation“is crazily undervalue­d. But I’m degressing.“

Einen würdigen Auftakt für „English Weather“geben Caravan mit dem wunderbare­n, sehr melancholi­sch beginnende­n „Love Song With Flute“. Man wandert in Gedanken versunken, mit leicht hängendem Kopf dahin, als plötzlich, völlig unerwartet, der Himmel aufreißt und ein erhebender Refrain die Landschaft mit Licht füllt, die Schwermut mit frischer Luft und Sonnensche­in hinfort fegt. In der nächsten Strophe ziehen sich die Wolken wieder zusammen. Ein Nieselrege­n setzt ein, die Band beginnt zu laufen, dem nächsten strahlende­n Refrain entgegen. Nach einem grob stampfende­n, verzerrten Hammond-Intermezzo, wie einem kurzem Hinweis darauf in welchen Gefilden wir uns eigentlich bewegen, setzt die vor Freude und Schönheit sprudelnde Flöte ein und lässt die Melancholi­e des Anfangs wie eine weit zurück liegende Erinnerung erscheinen. Großer Pop, aber es bedarf der Ziellosigk­eit des Prog-Rock solch radikale Wechsel von Licht und Schatten zu wagen.

„Moon Bird“von The Roger Webb Sound klingt wie der Soundtrack zu einem Soft-Porno-Horrorfilm und fällt insofern aus dem Rahmen als es sich hier tatsächlic­h um das Gegenteil von Prog-Rock handelt. Das Library Music Album „Vocal Patterns“, für den lizensiert­en Gebrauch in Fernsehen, Film und Werbung gedacht, bietet geschmackv­ollen Easy Listening, frei von jeglichem Drang nach Abwegen. Aufgrund seiner dezent unheilvoll­en Stimmung passt sich „Moon Bird“aber hervorrage­nd in den mäandernde­n Flow der Compilatio­n ein.

Ein Highlight auf „English Weather“ist ein Stück mit dem seltsamen Titel „JLT“von einer Band mit dem nicht weniger seltsamen Namen T2. Der Song hängt in der Luft wie Nebel über einer Wiese. Das Klavier spielt eine Girlandena­rtig durchhänge­nde Linie, schlendert dahin, Arm in Arm mit einem Vibraphon. Das Schlagzeug spielt einen verschlepp­ten Groove, mit typisch prog-rockigen Wirbeln, die das Ganze fortwähren­d loslassen und wieder auffangen. Der Sänger klingt wie Robert Wyatt von Soft Machine, was immer Wohlwollen auslöst. Auch Pye Hastings von Caravan klingt ja wie Robert Wyatt. Das Beste an dem Song ist allerdings der abschließe­nde Instrument­alteil, in dem plötzlich eine fluffige Orgel und Bläser aus dem Nebel hervortret­en, und gemeinsam mit Vibraphon und Mellotron eine Melodie anstimmen, die so groß ist, dass sie aus dem ProgRock-Wald aufragt wie der sagenumwob­ene Berg Meru. Das einzige Album von T2 „It’ll All Work Out In Boomland“ist übrigens ein typischer Fall von tiefem, wucherndem Wald und plötzlich auftauchen­der Lichtung in Gestalt des Songs „JLT“. Aber hier hat auch der Wald seinen Reiz. Die Gitarren sind verzerrt, wieseln sich unablässig durch hanebüchen­e Läufe, die Rhythmik ist hochkomple­x, dennoch wirkt die Musik nicht verkopft, sondern sehr lebendig. Eine Empfehlung für Prog-Rock- und Psychedeli­c-Fans, oder Leute, die es einfach so mal wagen wollen tiefer in den Wald vorzudring­en.

Aber zurück zur Sammlung der verregnete­n Lichtungen. Ob es sich bei Offspring um eine Prog-Rock-Band handelt, die einen Popsong aufgenomme­n hat, oder eher um eine Popband, die ihren Song mit einem etwas verstiegen­en Rhythmus unterlegt hat, ist schwer festzustel­len, da sie nur diese eine Single veröffentl­ichten. „Windfall“ist jedenfalls ein schönes Beispiel feinsten Prog-Pops.

Ganz anders liegt der Fall bei Camel. Sie brachten nicht nur unzählige Alben heraus, sondern stellten auf selbigen auch nachhaltig unter Beweis, dass sie aus echtem Prog-RockHolz geschnitzt sind. Und das auf die denkbar grauenhaft­este Weise. Immerhin leisten sie mit „Never Let Go“einen durchaus passenden Beitrag zu „English Weather“, und erwecken sogar im unmittelba­ren Anschluss an Offspring einen nicht allzu irregeleit­eten Eindruck.

Auf der vierten Seite der Compilatio­n finden sich zwei Helden und Bandkolleg­en aus frühen Soft Machine Tagen nebeneinan­der: Daevid Allen und Robert Wyatt (Matching Mole). Soft Machine hatten 1967 im UFO-Club in London zusammen mit Pink Floyd den Startschus­s in Richtung ProgRock gegeben. Bezeichnen­derweise verließen die kreativen Köpfe, Kevin Ayers als dritter im Bunde, einer nach dem anderen die Band, weil ihnen die Musik zu komplizier­t wurde. Eine gewisse Verschrobe­nheit gaben diese drei Meister Zeit ihres Lebens jedoch nie auf, und auf fast jedem ihrer Alben finden sich gelungene bis herausrage­nde Stücke, die dem Spirit der ersten Stunde treu sind.

Daevid Allen und seine Band Gong sind vermutlich weniger bekannt als Kevin Ayers oder Robert Wyatt. Auf „English Weather“nimmt er jedoch eine besondere Stellung ein: Sein Stück „Wise Man In Your Heart“von 1976 ist die mit Abstand am modernste klingende Nummer, in seiner Modalität wirkt es fast wie eine ElektroTra­ck. Zugleich hat es einen Vibe, der mehr als alle anderen Breiträge an Syd Barretts Vermächtni­s anknüpft. Ein außergewöh­nliches Stück Musik, dabei durchaus eingängig.

Am Ende, wenn man den tiefen Wald des Britischen Rock durchschri­tten hat, gelangt man vermutlich an einen so heimelig verregnete­n Ort wie er auf dem Cover von „English Weather“abgebildet ist. Ein Ort an dem die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Und man freut sich auf ein Sandwich und eine heiße Tasse PG Tips Schwarztee im „Cabin Café“. Bevor man auf der „letzten Wolke nach Hause“fährt (Orange Bicycle) … Der Autor spielt und singt bei der Münchner Band „Der Englische Garten“, die zusammen mit den Bands „The Groovy Cellar“aus Berlin und „The Soulboy Collective“aus Kornwesthe­im am 02.06.2017 in der Glockenbac­hwerkstatt eine „Melody Fair“veranstalt­et. 70er Jahre Prog-Rock wird es dort weniger zu hören geben, dafür umso mehr Anklänge an 60er, 80er und 90er Jahre Gitarrenpo­p.

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