In München

The Lübeck Leitz Ordner Massacre

- Jonny Rieder

„Wir lieben niemals irgendjema­nden. Wir lieben ganz allein die Vorstellun­g, die wir und von jemandem machen. Unsere eigene Meinung – letztlich also uns selbst – lieben wir.“Der Hilfsbuchh­alter mit dem Geist eines Existenzph­ilosophen und Ich-Erzähler in Fernando Pessoas Buch der

Unruhe ist das Komplement­ärstück zu Thomas Mann, dem Schriftste­ller mit der Seele eines Buchhalter­s und Verfechter der Langeweile, der er mit praktisch jedem seiner Bücher ein Denkmal setzte. Das macht ein Thomas-Mann-Hörspiel, bei dem der Hörer nicht nach einer Minute in den Schorchel-Modus wechselt, zum Snake-Plissken-Job. Als sich Hörspielbe­arbeiter Heinz Sommer und Regisseur Leonhard Koppelmann trafen, sagten – jede Wette – beide synchron: „I need your magic.“Voilà. Das hier ist allerfeins­te Hörspielku­nst. Raffiniert, elegant, einfallsre­ich wie Grand Budapest

Hotel von Wes Anderson. Ausgangspu­nkt ist eine echte Thomas-Mann-Lesung aus dem Jahre 1954, für das Hörspiel in ein Schweizer Grandhotel verlegt. Ingeborg Lüdersen, eine fiktive ehemalige Freundin Manns, besucht die Lesung und erinnert sich an ihre gemeinsame Zeit. Als Inge Holm bekam sie eine Rolle in Manns Novelle Tonio Kröger (1903), aus der er an diesem Abend (im O-Ton) vorliest. Auf einer dritten Ebene erwachen Tonio Kröger und Co. selbst zum Leben. Das Hörspiel wechselt permanent zwischen diesen drei Ebenen. Dabei geht es vor allem um den Autor und sein Innenleben. „... und der Scheitel so korrekt gezogen wie damals, und dein kleiner Schnauzer, (...), alles so ordentlich, könntest auch ein Handelskon­tor leiten, so wie du ausschaust ...“, amüsiert sich Ingeborg über ihren Thommy auf der Bühne. Auch der Schauplatz ist very Thomas Mann: Das Grandhotel, „Ersatzschl­oss für alle, die nicht als Aristokrat­en zur Welt gekommen sind, aber es sich leisten können, so zu leben“(E. W. Heine), spielt eine Hauptrolle in Manns Leben und Werk, ein Ort unerfüllte­r Liebe und Geisterbah­nhof für die missglückt­e Flucht aus der Bürgerlich­keit. Auch eine gedanklich­e Rachegesch­ichte lässt sich hinein deutelmose­rn. Stellvertr­etend für alle Epochenbeg­leiter Manns, die er menschlich enttäuscht­e, dafür ungefragt als Figuren in seinen Büchern auftreten lies, taucht diese Ingeborg auf wie Charles Bronson am Bahnhof und erschießt den selbstverl­iebten Thommy mit ihren Erinnerung­en.

Thomas Mann:

Tonio Kröger. Hörspiel von Heinz Sommer und Leonhard Koppelmann mit Senta Berger, Axel Milberg, Sabin Tambrea u. a., 4 CDs, ca. 5 Std., www.hoerverlag.de

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