Draußen vor der Tür
5MJUBELTER -ARTHALER AN DEN +AMMERSPIELEN ~4IEFER 3CHWEB
Der Auftrag lautet: „Nachhaltige Oberflächenneuordnung der exterritorialen Bereiche des Bodensees“. Dafür gibt’s einen Ausschuss, eingesetzt vom „Sicherheitsrat der Vereinigten Bodenseeverwaltung“, Tagungsort: Klausurdruckkammer 55b, 243 Meter unter dem Wasserspiegel, im „Tiefen Schweb“, der tiefsten Stelle des Bodensees. Anlass der Beratung: oben auf dem See schwimmt ein Dorf, zusammengezurrt aus alten Ausflugsdampfern, in dem, nein, keine Flüchtlinge wohnen, sondern „Personen, die ihre zumeist außereuropäische Heimat verlassen haben“. Sie warten auf Aufnahme in den Anrainerstaaten. Der UnterwasserAusschuss soll nun „Strukturkonzepte für nachhaltig fluide Lebensweisen auf H²0-basiertem Untergrund“ersinnen. So weit, so schwammig. Aber völlig ausreichend als Basis für eine dieser wundersamen Grotesken, die sich Christoph Marthaler so gemeinhin zusammenspintisiert. Irgendwie gehts um Bürokratie und Heimat (die man einmal in einer aberwitzigen Kostümparade hoch- und höherleben lässt), um Selbstbehauptung und Gruppenidentität, um Angst vor dem, was von draußen kommt, ob Flüchtlinge oder Streptokokken – ein Mix, mit dem sich herrlich spielen lässt. Marthaler ist, nach 15 Jahren, endlich wieder zurück in München, und der Jubel in den Kammerspielen klingt nach Befreiung. Als ob sich da in der letzten Zeit etwas angestaut hätte ... Wer arbeitet, soll sich auch wohlfühlen: Duri Bischoff hat dem Ausschuss eine Stube gebaut, ein holzgetäfelter Versuch von Gemütlichkeit. Hinter der verschiebbaren Rückwand lagern Frischwasservorräte, links ein Kachelofen, der zugleich Verbindung nach draußen ist: die Kuppel kann man aufklappen wie eine U-Boot-Luke, rechts ein irdener Wirtshaustisch mit Stühlen. Hier tagt, nur gelegentlich gestört von Druckausfällen, der in amtliches Mausgrau gewandete Rat. Doch was heißt schon tagen? Man sitzt um den Tisch, stiert in die Platte und ploppt erst mal eine Runde mit den Lippen. Dann wird referiert, über Kompetenz, über eine geschwommene Bodensee-Querung als Eignung zur Ausschussmitarbeit. „Tamino aus Illyrien“wird zum Zwecke der Einbürgerung einem Bayerisch-Test (Inhaltsstoffe der Weißwurst, Schuhplatteln) unterzogen, Hygienevorschriften werden eingefordert, fehlende Damentoiletten bemängelt. Was die Männer aber nicht hindert, beim Pinkeln über Denken und Wollen zu philosophieren. Wenn die Worte ausgehen, die Regisseur, Dramaturg und Ensemble gefunden haben (mit ein bisschen Wildern bei Achternbusch, Derrida, Heidegger, Kafka u.a.), dann schafft Marthaler ganz marthalermäßig Erlösung: es wird gesungen. Wunderschön, mehrstimmig, Kirchliches, Volkslieder: mal kunstvoll ins Nervige getrieben, mal mit Hängepissoir über dem Kopf im Höhlensound. Höhepunkt: die Battle dreier Männer an ihren Hammond-Orgeln: ein zartes „Sounds of Silence“transformiert in ein dröhnendes „Whiter shade of pale“– nie tappte mehr Testosteron auf Tasten, eine Show zum Wegschmeißen von Jürg Kienberger, Raphael Clamer, Stefan Merki und Ueli Jäggi. Die anderen, Annette Paulmann, Olivia Grigolli, Walter Hess und Hassan Akkouch, stehen ihnen in nichts nach: alle sind sie markerschütternd mit dem Ernst bei der Sache, den große Komik braucht. „Fein sein, beinander bleib’n“singen sie einmal. Wenn dieser Neurosenzirkus mit all dem feineren Blödsinn eine Botschaft hat, dann wohl die Bretter, mit denen die gute Stube schließlich vernagelt wird: Fein sein, ja. Aber bitte: unter sich bleib‘n.