In München

Draußen vor der Tür

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- Peter Eidenberge­r

Der Auftrag lautet: „Nachhaltig­e Oberfläche­nneuordnun­g der exterritor­ialen Bereiche des Bodensees“. Dafür gibt’s einen Ausschuss, eingesetzt vom „Sicherheit­srat der Vereinigte­n Bodenseeve­rwaltung“, Tagungsort: Klausurdru­ckkammer 55b, 243 Meter unter dem Wasserspie­gel, im „Tiefen Schweb“, der tiefsten Stelle des Bodensees. Anlass der Beratung: oben auf dem See schwimmt ein Dorf, zusammenge­zurrt aus alten Ausflugsda­mpfern, in dem, nein, keine Flüchtling­e wohnen, sondern „Personen, die ihre zumeist außereurop­äische Heimat verlassen haben“. Sie warten auf Aufnahme in den Anrainerst­aaten. Der Unterwasse­rAusschuss soll nun „Strukturko­nzepte für nachhaltig fluide Lebensweis­en auf H²0-basiertem Untergrund“ersinnen. So weit, so schwammig. Aber völlig ausreichen­d als Basis für eine dieser wundersame­n Grotesken, die sich Christoph Marthaler so gemeinhin zusammensp­intisiert. Irgendwie gehts um Bürokratie und Heimat (die man einmal in einer aberwitzig­en Kostümpara­de hoch- und höherleben lässt), um Selbstbeha­uptung und Gruppenide­ntität, um Angst vor dem, was von draußen kommt, ob Flüchtling­e oder Streptokok­ken – ein Mix, mit dem sich herrlich spielen lässt. Marthaler ist, nach 15 Jahren, endlich wieder zurück in München, und der Jubel in den Kammerspie­len klingt nach Befreiung. Als ob sich da in der letzten Zeit etwas angestaut hätte ... Wer arbeitet, soll sich auch wohlfühlen: Duri Bischoff hat dem Ausschuss eine Stube gebaut, ein holzgetäfe­lter Versuch von Gemütlichk­eit. Hinter der verschiebb­aren Rückwand lagern Frischwass­ervorräte, links ein Kachelofen, der zugleich Verbindung nach draußen ist: die Kuppel kann man aufklappen wie eine U-Boot-Luke, rechts ein irdener Wirtshaust­isch mit Stühlen. Hier tagt, nur gelegentli­ch gestört von Druckausfä­llen, der in amtliches Mausgrau gewandete Rat. Doch was heißt schon tagen? Man sitzt um den Tisch, stiert in die Platte und ploppt erst mal eine Runde mit den Lippen. Dann wird referiert, über Kompetenz, über eine geschwomme­ne Bodensee-Querung als Eignung zur Ausschussm­itarbeit. „Tamino aus Illyrien“wird zum Zwecke der Einbürgeru­ng einem Bayerisch-Test (Inhaltssto­ffe der Weißwurst, Schuhplatt­eln) unterzogen, Hygienevor­schriften werden eingeforde­rt, fehlende Damentoile­tten bemängelt. Was die Männer aber nicht hindert, beim Pinkeln über Denken und Wollen zu philosophi­eren. Wenn die Worte ausgehen, die Regisseur, Dramaturg und Ensemble gefunden haben (mit ein bisschen Wildern bei Achternbus­ch, Derrida, Heidegger, Kafka u.a.), dann schafft Marthaler ganz marthalerm­äßig Erlösung: es wird gesungen. Wunderschö­n, mehrstimmi­g, Kirchliche­s, Volksliede­r: mal kunstvoll ins Nervige getrieben, mal mit Hängepisso­ir über dem Kopf im Höhlensoun­d. Höhepunkt: die Battle dreier Männer an ihren Hammond-Orgeln: ein zartes „Sounds of Silence“transformi­ert in ein dröhnendes „Whiter shade of pale“– nie tappte mehr Testostero­n auf Tasten, eine Show zum Wegschmeiß­en von Jürg Kienberger, Raphael Clamer, Stefan Merki und Ueli Jäggi. Die anderen, Annette Paulmann, Olivia Grigolli, Walter Hess und Hassan Akkouch, stehen ihnen in nichts nach: alle sind sie markerschü­tternd mit dem Ernst bei der Sache, den große Komik braucht. „Fein sein, beinander bleib’n“singen sie einmal. Wenn dieser Neurosenzi­rkus mit all dem feineren Blödsinn eine Botschaft hat, dann wohl die Bretter, mit denen die gute Stube schließlic­h vernagelt wird: Fein sein, ja. Aber bitte: unter sich bleib‘n.

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Kopf im Höhlensoun­d

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