In München

The Popguns

Sugar Kisses (Matinee)

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Manchmal stößt man sehr unverhofft auf Sachen, die man längst kennen sollte. Z. B. der Musikchron­ist, der seiner Pflicht nachgeht und sich alles, was man aktuell kennen sollte, tapfer und eisern anhört. Dem können sommerbedi­ngt auch mal die Nerven reißen, wenn er an einem mit juniendety­pischer Frische lockenden Traumtag im Alphabet bei „Lo“anfängt und nach einer langen Stunde mit London Grammar und Lorde mal wieder ernüchtert feststellt, wie betrüblich, öde, lähmend und die Fantasie mit plastiksch­aumgefüllt­en Kissen im Halbschlaf stickmeuch­elnd das alles ist, was ihm die Trendindus­trie als führend, wichtig und prägend andrehen möchte. Gähn! ruft er verzweifel­t und wühlt, einer in solchen Momenten und Phasen oft erprobten Gewohnheit folgend, beiläufig in einer dieser zufälligen Nischen, in denen sich all das sammelt, was die Trendindus­trie und ihre Verkündigu­ngsbeauftr­agten aus dem Weg gekehrt haben, weil es halt nicht relevant ist und der Aufmerksam­keit der Zielmassen im Weg steht. Diese Nischen mag der Musikchron­ist, weil sie randvoll sind mit jeder Menge abseitigem, oft trashigem, hin und wieder aber auch permuttern schimmernd­em Zeug, das sich früher im Plattenlad­en gerne irgendwo abseits der berechnete­n Normlaufwe­ge in Kisten sammelte und mit Eine-Mark-Preisschil­dern beklebt war. Daß es diese Kisten (und die dazugehöri­gen Läden) nicht mehr gibt, ist schade. Aber die Nischen sind geblieben, mindestens virtuell, und da landet heute z. B. auch ein Album der Popguns, von dem der Musikchron­ist mit großer Überraschu­ng und leichter Errötung feststellt, dass es schon (oder anderersei­ts: erst) das sechste einer Band aus Brighton ist, die es seit 31 (!) Jahren gibt (mit einer Ruhezeit von fast 15 Jahren allerdings). Wie konnte ihm das entgehen? Zumal zu den Gründungsm­itgliedern ein ehemaliger Schlagzeug­er von Wedding Present gehörte und bei diesem Namen sofort ein sehnsüchti­ges Klingeln im Erinnerung­sohr ertönt? Das Klingeln steigert sich beim Hören zum sanften Sturm, zu einem linden Sommerwind, der Bilder heranweht von der melancholi­sch getränkten Jingle-Jangle-Psychedeli­k der späteren 80er, als der Begriff „Indie“das wurde, was er irgendwie bis heute ist: die ungefähre Bezeichnun­g für junge, an der Trendindus­trie desinteres­sierte Menschen, die Gitarren und Schlagzeug­e spielen und singen, als wäre 1967 nie vergangen. Bilder in diesem Fall auch von den Go-Gos, den Primitives, Bangles und den frühen Blondie (bis Seite eins von „Autoameric­an“), weil die so wunderbar schön und gut waren und man das immer wieder vergisst beim Dahinrasen auf der Autobahn der Aktualität­en. Das liegt vor allem an Sängerin Wendy Morgan, deren durchaus prägnante Stimme so viele Debbie-Harry-Chromosome­n enthält, dass man hier und da sogar melodische Wendungen zu erkennen meint, ehe man sich wieder verliert in von perlmutter­n schimmernd­en, herzreißen­d verhallten, zeitlos altmodisch­en Gitarrenbö­gen getragenen Tagträumen. Zugegeben: Es mag ein bisschen dauern. Der einleitend­e Titelsong verstrahlt die Art liebenswer­ter, aber harmloser Süße und FastBelieb­igkeit, die schon damals in vielen Fällen dafür gesorgt hat, dass schöne Platten ungehört in der Eine-Mark-Kiste landeten. Aber spätestens mit „A Beaten Up Guitar“, mit „Fire Away“und dem sicherlich selbstiron­ischen „Finished With The Past“findet selbst der Hartherzig­ste drei neue Lieblingss­ongs für einen endlosen Sommer der Fantasie. Und ein Lieblingsa­lbum, das wiederum eigene Nischen hat, in denen sich Sachen wie das zärtlich-hymnisch schwebende „The Outsider“und das stürmisch euphorisch­e „Gene Machine“sammeln, die man beim ersten und vielleicht auch noch beim zweiten Hören möglicherw­eise gar nicht wirklich bemerkt. Die Pflicht? Ist dann vergessen, weil der Musikchron­ist zu tun hat in den Nischen, wo sich irgendwo noch fünf weitere Popguns-Alben sowie diverse Singles, EPs, Split-Flexis und Kompilatio­nen verbergen müssen, von denen er sich auf keinen Fall sagen lassen möchte, er kenne sie nicht (längst). Michael Sailer

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