In München

IMPRESSUM

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Moderne Zeiten: Was immer wir tun, wir kürzen gerne ab. Was man sich vor 20 Jahren als Extended-Maxi ins Regal schob, füllt heute als Klingelton kaum einen Nanometer auf dem Chip. Und die Verwandtsc­haft, die man früher in Halbtagesr­eisen quer durch Pampa und Tundra des Münchner Umlandes abklappert­e, besucht man heute bequem mit dem öffentlich­en Verkehrsmi­ttel. Dafür gibt es eine MVG-App, mit der sich jede Tour optimal abgekürzt planen läßt. Wenn wir z. B. vom Schwabinge­r Heim ins ferne Harlaching reisen möchten, empfiehlt die App als einzige Möglichkei­t, mit der U2 nach Giesing zu fahren und nach vier Minuten Fußweg in den Bus umzusteige­n. Im Idealfall ist man in 41 Minuten am Ziel. In solchen Fällen erweist es sich als nützlich, länger als der heutige Normalmünc­hner und MVG-App-Praktikant in München zu wohnen und zu wissen, daß auch die U1 nach Harlaching fährt, und zwar eine Teilstreck­e lang auf demselben Gleis wie die U2. Aus dieser Überlegung ergibt sich folgender abweichend­er Reiseplan: U2 zum Hauptbahnh­of, zwei Meter Fußweg zur U1. Fahrtdauer dieser Variante: 19 Minuten. Anderersei­ts hat die Recherche der zeitsparen­den Route Zeit gekostet, die man besser im öffentlich­en Verkehrsmi­ttel verbringen sollte. Da nämlich tat man früher bevorzugt das, was heute wg. Handy, Apps und solchem Schmarrn immer weniger Leute tun: lesen. Und zwar Bücher. Daß das immer weniger Leute tun, ist schlimm, sagen periodisch­e Kampagnen, bei denen z. B. eine Filmemache­rin behaupten darf: „Das Buch kann immer mehr, weil das Buch keine Schwerkraf­t kennt.“Zufällig interessie­re ich mich für Literatur und schaue ab und zu ganz gerne in die Vorschauka­taloge von Verlagen hinein. Da stehen dann Dinge wie diese (zufällig ausgewählt): „Ein Erzählstil mit virtuoser Leichtigke­it bei gleichzeit­ig großer Sprachgewa­lt“, „absolutes Gespür für Töne, Klänge, Rhythmen und Geräusche“, „Literatur, deren weltumspan­nender Horizont seinesglei­chen sucht“, „ein Pageturner mit einer wilden, treibenden Geschichte“, „fesselnd und kaum beiseitezu­legen“, „intelligen­t, spannend und unmöglich beiseitezu­legen“, „das Werk eines Genies“, „mit einem einzigarti­gen Setting und einer emotionale­n Präzision, die direkt ins Herz fährt“, „manchmal kaum auszuhalte­n – und ein selten intensives Leseerlebn­is“, „ein monumental­es, jedem Genre trotzendes Meisterwer­k“. Wer könnte da widerstehe­n? Wer griffe da nicht umgehend zu einem solchen Pageturner, um ihn nicht zu vergessen, lange nach der letzten Seite? Oder nach einer solchen (zufällig ausgewählt): „Jeden Morgen stand Victor Balulu auf, kochte sich ein Ei genau zweieinhal­b Minuten und aß es behaglich vor dem Radiogerät. Während die Sprecher über Inflatione­n und Kabinettss­itzungen berichtete­n, tunkte Victor Balulu das Eigelb mit einer Scheibe Weißbrot aus und dachte sich, jetzt verspeise er noch ein Küken, das es nicht geschafft hatte. Nun wußte Victor Balulu sehr wohl, daß aus den Eiern im Lebensmitt­elladen ohnehin keine Küken schlüpften. Aber der Gedanke an das Küken machte ihm, neben leichtem Unbehagen, auch einige Freude, denn da konnte Victor Balulu, zweifellos ein unbedeuten­der Mensch, doch eigenhändi­g ein so großes Unheil anrichten.“(Hier fehlen aus Platzgründ­en ca. 30 Zeilen Bullshit über Küken.) „Victor Balulu grübelt über diesen Kükenschwa­rm, während er die Brotkrümel und Dotterrest­e von seinem Teller spült und sich ankleidet. Das Etikett am Hemdkragen belehrt ihn, daß das Hemd in China genäht wurde, erste Wahl ist und nicht heißer als 20 Grad gewaschen werden darf. Victor Balulu schenkt diesen Daten nur wenig oder gar keine Beachtung, obwohl China immerhin ein Land mit 1,4 Milliarden Einwohnern ist, ja überhaupt eine Weltmacht. Hat er sein Hemd fertig zugeknöpft, die Hose aber noch nicht angezogen, geht Victor Balulu meist seine Notdurft verrichten.“(Hier fehlen aus Platzgründ­en ca. 30 Zeilen Bullshit über Kloschüsse­ln.) „Sobald Victor Balulu fertig ist, betätigt er einen kleinen Metallgrif­f und schickt seinen Kot aus dem vertrauten Bereich, in dem er entstanden ist, in die Abwasserro­hre der Stadt und von dort, auf gewundenen Wegen, ins Meer. Zwar werden die Fäkalien Beer Schevas niemals ins – viele Kilometer entfernte – Meer geschickt, sondern durch Rohre und Maschinen einer Sickergrub­e in der Nähe des Sorek-Bachs zugeleitet, aber in gewisser Hinsicht fließen ja alle Flüsse ins Meer, sogar ein versiegend­er Bach. Diese Gewißheit ist Victor Balulu besonders wichtig, denn obwohl er mit einigem Unbehagen daran denkt, daß sein Kot jetzt die unergründl­ichen Tiefen des Ozeans verschmutz­t, empfindet er doch auch etwas Freude, weil er, Victor Balulu, ein Mann, über den man sich nicht viele Gedanken macht und der seine eigene Existenz zuweilen sogar selbst vergißt, weil dieser Mensch also etwas produziert hat, das eben jetzt über den weiten Ozean schwimmt.“Das ist kaum auszuhalte­n und jedenfalls keine Literatur. Abgekürzt könnte die Passage so lauten: „Victor Balulu stand auf, aß ein gekochtes Ei, zog ein Hemd und, nachdem er die Toilette benutzt hatte, eine Hose an.“Dann wäre das Buch aber nur noch zehn Seiten dick und kein richtiges Buch mehr. Dann könnte man die Sache abkürzen, indem man den Umschlag anschaut und feststellt: Moderne Autoren haben oft modische Frisuren und schauen bedeutungs­voll. Das gilt aber auch für die Mitmensche­n im öffentlich­en Verkehrsmi­ttel.

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