FRISCH GEPRESST / MEINE PLATTE
Regieanweisung: Straßenstaubwolken, Horizont (leuchtend, verschummert), diffuses Sonnenlicht, am rechten Bildrand ein einsamer Kaktus; von links Auftritt eines freundlichen älteren Mannes, der nicht recht in die Szenerie paßt. Sprecherstimme aus dem Off. Wir leben im Zeitalter der Jubiläen. Fast alles, was kulturell gegenwärtig von „Bedeutung“ist, hat 30, 50, manchmal 100 Jahre auf dem Buckel und führt eine Doppelexistenz in Museen und (weil wir hier bei Musik sind) Charts. Da kann schon mal was untergehen, vor allem wenn das Datum der gewinnträchtigen Anniversierung nicht ganz klar ist. Z. B. das musikalische Schaffen und Wirken von Ryland Peter Cooder, gut 71 Jahre alt: Das fing offizieller Datierung zufolge damit an, daß er vor 51 Jahren auf Captain Beefhearts Debütalbum „Safe As Milk“Gitarre, Bass und Schepperlzeug spielte. Damals gab es noch Neues, etwa Cooders Idee, seine Gitarre wie ein Banjo zu stimmen und zu spielen – dafür gibt es heute Youtube-Tutorials. Dass die Platte ihrer Zeit ein gutes Stück voraus war, mag man daraus schließen, dass sie wie ein Steinklotz in den Ladenregalen lag, aber auf die Dauer nicht etwa unterging, sondern die seltsamsten Bewunderer fand, von den Beatles über Sonic Youth und The Kills (die Songs davon coverten) bis hin zur Verfilmung von Nick Hornbys „High Fidelity“, in der sich Barry hartnäckig weigert, die Platte an unwürdige Kunden zu verkaufen. 1970 spielte Cooder auf Randy Newmans „12 Songs“, nicht lang davor auf „Love In Vain“und „Sister Morphine“mit den Rolling Stones, zwischendurch mit allen möglichen Leuten. Er sammelte uralte Platten und Bänder, eignete sich Spielweisen und Stilschattierungen an, die jahrzehntelang vergessen waren, und wurde zu einer Art Museum, dessen bewahrende und vitalisierende Tätigkeit ihm vor 46 Jahren mit „Into The Purple Valley“selbst eine Art Klassiker bescherte. Nun wird der Platz knapp. Cooders Museum eröffnete neue Flügel, nahm Blues, hawaiianische Folklore, Tex Mex auf, hängte weitere Portraits in die Ehrengalerie (Van Morrison, Gabby Pahinui, Judy Collins, Gordon Lightfoot, Beach Boys u. v. a.) und hatte die semipopuläre Musik (nicht nur) der USA bald so infiltriert, dass man Cooder-Alben aufs erste Hören erkannte, auch wenn sein Name nicht mal kleingedruckt auf der Rückseite stand. Hinzu kamen Massen an Filmsoundtracks: „Paris, Texas“(Wim Wenders) mag der bekannteste sein (wobei Cooder u. a. entdeckte, dass die Wüste singt, und zwar in Es-moll), „Last Man Standing“der größte (kommerzielle) Reinfall, „Crossroads“der persönlichste (wg. Robert Johnson). Mit V. M. Bhatt („A Meeting By The River“, 1993) und Ali Farka Toure („Talking Timbuktu“, 1995) setzte er gültig bleibende Eckpfeiler unpeinlicher, nichtexploitativer Weltmusik und erntete zwei Grammys, produzierte 1997 den kubanischen Veteranenverein Buena Vista Social Club, was ihm 25.000 Dollar Strafe wegen Embargobruch wert war. Und, freilich, einen weiteren Klassiker lieferte. Harter Schnitt, Gegenwart. Kann sich jemand an termingerechte Jubiläumsfeiern zu einem der erwähnten Meilensteine erinnern? Weltweite Feierlichkeiten zu Ry Cooders 70. Geburtstag? An irgendwas (außer dem etwas kläglichen „Lifetime Achievement Award“bei den BBC-Radio-2-Folk-Preisen 2017)? Gut so, möchte man sagen. Menschen sterben irgendwie, wenn es ihnen zu viel von dem Zeug draufhagelt. Ry Cooder hingegen spielt einfach weiter, verzichtet auf seinem ersten eigenen Album seit sechs Jahren auf Novitäten und gräbt vielmehr nach tiefen Pfahlwurzeln im spröden Grund des Wilderen USSüdens: Blind Willie Johnson (1897-1945) und Blind Roosevelt Graves (1909-1962) sind Werkzeug und Frucht zugleich (dass Cooder selbst ein Glasauge trägt, seit er vier ist, weil er sich, wie es hieß, „versehentlich“ein Messer ins Auge rammte, sei nur anekdotisch erwähnt). Die Songs sind derart traditionell, dass man sie „schon immer“zu kennen glaubt, die Arrangements reichen von supereingängigem 70er-Stones-Rock im Titelsong über ein Kaleidoskop von Anwehungen aus allen Himmelsrichtungen bis hin zum ganz knorrigen Urblues in „Nobody‘s Fault But Mine“(einst von Led Zeppelin geklaut, vielleicht daher die an „Kashmir“erinnernden Streicherfragmente). Wichtig: Cooders Stimme, absolut unmanieriert; ein gelassener, onkelhafter Geschichtenerzähler, der nichts zu verkörpern versuchen muss, weil er alles ist.