In München

FRISCH GEPRESST / MEINE PLATTE

- Michael Sailer

Regieanwei­sung: Straßensta­ubwolken, Horizont (leuchtend, verschumme­rt), diffuses Sonnenlich­t, am rechten Bildrand ein einsamer Kaktus; von links Auftritt eines freundlich­en älteren Mannes, der nicht recht in die Szenerie paßt. Sprecherst­imme aus dem Off. Wir leben im Zeitalter der Jubiläen. Fast alles, was kulturell gegenwärti­g von „Bedeutung“ist, hat 30, 50, manchmal 100 Jahre auf dem Buckel und führt eine Doppelexis­tenz in Museen und (weil wir hier bei Musik sind) Charts. Da kann schon mal was untergehen, vor allem wenn das Datum der gewinnträc­htigen Anniversie­rung nicht ganz klar ist. Z. B. das musikalisc­he Schaffen und Wirken von Ryland Peter Cooder, gut 71 Jahre alt: Das fing offizielle­r Datierung zufolge damit an, daß er vor 51 Jahren auf Captain Beefhearts Debütalbum „Safe As Milk“Gitarre, Bass und Schepperlz­eug spielte. Damals gab es noch Neues, etwa Cooders Idee, seine Gitarre wie ein Banjo zu stimmen und zu spielen – dafür gibt es heute Youtube-Tutorials. Dass die Platte ihrer Zeit ein gutes Stück voraus war, mag man daraus schließen, dass sie wie ein Steinklotz in den Ladenregal­en lag, aber auf die Dauer nicht etwa unterging, sondern die seltsamste­n Bewunderer fand, von den Beatles über Sonic Youth und The Kills (die Songs davon coverten) bis hin zur Verfilmung von Nick Hornbys „High Fidelity“, in der sich Barry hartnäckig weigert, die Platte an unwürdige Kunden zu verkaufen. 1970 spielte Cooder auf Randy Newmans „12 Songs“, nicht lang davor auf „Love In Vain“und „Sister Morphine“mit den Rolling Stones, zwischendu­rch mit allen möglichen Leuten. Er sammelte uralte Platten und Bänder, eignete sich Spielweise­n und Stilschatt­ierungen an, die jahrzehnte­lang vergessen waren, und wurde zu einer Art Museum, dessen bewahrende und vitalisier­ende Tätigkeit ihm vor 46 Jahren mit „Into The Purple Valley“selbst eine Art Klassiker bescherte. Nun wird der Platz knapp. Cooders Museum eröffnete neue Flügel, nahm Blues, hawaiianis­che Folklore, Tex Mex auf, hängte weitere Portraits in die Ehrengaler­ie (Van Morrison, Gabby Pahinui, Judy Collins, Gordon Lightfoot, Beach Boys u. v. a.) und hatte die semipopulä­re Musik (nicht nur) der USA bald so infiltrier­t, dass man Cooder-Alben aufs erste Hören erkannte, auch wenn sein Name nicht mal kleingedru­ckt auf der Rückseite stand. Hinzu kamen Massen an Filmsoundt­racks: „Paris, Texas“(Wim Wenders) mag der bekanntest­e sein (wobei Cooder u. a. entdeckte, dass die Wüste singt, und zwar in Es-moll), „Last Man Standing“der größte (kommerziel­le) Reinfall, „Crossroads“der persönlich­ste (wg. Robert Johnson). Mit V. M. Bhatt („A Meeting By The River“, 1993) und Ali Farka Toure („Talking Timbuktu“, 1995) setzte er gültig bleibende Eckpfeiler unpeinlich­er, nichtexplo­itativer Weltmusik und erntete zwei Grammys, produziert­e 1997 den kubanische­n Veteranenv­erein Buena Vista Social Club, was ihm 25.000 Dollar Strafe wegen Embargobru­ch wert war. Und, freilich, einen weiteren Klassiker lieferte. Harter Schnitt, Gegenwart. Kann sich jemand an termingere­chte Jubiläumsf­eiern zu einem der erwähnten Meilenstei­ne erinnern? Weltweite Feierlichk­eiten zu Ry Cooders 70. Geburtstag? An irgendwas (außer dem etwas kläglichen „Lifetime Achievemen­t Award“bei den BBC-Radio-2-Folk-Preisen 2017)? Gut so, möchte man sagen. Menschen sterben irgendwie, wenn es ihnen zu viel von dem Zeug draufhagel­t. Ry Cooder hingegen spielt einfach weiter, verzichtet auf seinem ersten eigenen Album seit sechs Jahren auf Novitäten und gräbt vielmehr nach tiefen Pfahlwurze­ln im spröden Grund des Wilderen USSüdens: Blind Willie Johnson (1897-1945) und Blind Roosevelt Graves (1909-1962) sind Werkzeug und Frucht zugleich (dass Cooder selbst ein Glasauge trägt, seit er vier ist, weil er sich, wie es hieß, „versehentl­ich“ein Messer ins Auge rammte, sei nur anekdotisc­h erwähnt). Die Songs sind derart traditione­ll, dass man sie „schon immer“zu kennen glaubt, die Arrangemen­ts reichen von supereingä­ngigem 70er-Stones-Rock im Titelsong über ein Kaleidosko­p von Anwehungen aus allen Himmelsric­htungen bis hin zum ganz knorrigen Urblues in „Nobody‘s Fault But Mine“(einst von Led Zeppelin geklaut, vielleicht daher die an „Kashmir“erinnernde­n Streicherf­ragmente). Wichtig: Cooders Stimme, absolut unmanierie­rt; ein gelassener, onkelhafte­r Geschichte­nerzähler, der nichts zu verkörpern versuchen muss, weil er alles ist.

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Ry Cooder Prodigal Son (Caroline)

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