BELÄSTIGUNGEN
Eine Freundin berichtete, sie studiere jetzt an der Universität. Irgendwas mit Schaltkreisen, die man über Bluetoothfrequenzen steuern könne und die für die Autoindustrie enorm zukunftsträchtig seien. Es sei schwer; sauviel zu lernen, ständig Prüfungen. Aber man brauche eben eine Bildung, damit man einen Job finde. Spontan korrigierte ich ihren Irrtum: Weder studiere sie, noch sei sie an einer Universität (abgesehen von dem Gebäude, das aus Traditionsgründen diese Aufschrift trage). Vielmehr mache sie eine berufliche Ausbildung, deren Ziel die Qualifikation für eine Arbeitsstelle sei. Mit Bildung habe das absolut nichts zu tun, weil Bildung im Zweifelsfall dazu führt, daß man die Notwendigkeit eines Jobs und des Kapitalismus insgesamt anzweifelt. Sie war verstimmt. Selbstverständlich diene ihr Studium der beruflichen Qualifikation! Sie wolle ja was erreichen und bewegen! Wofür man denn sonst einen Abschluß mache? Und ich hätte doch auch mal studiert?! Was ich daraus eigentlich gemacht hätte? Nun holte ich weiter aus. Studieren, sagte ich, bedeute, sich in eine Sache so hineinzuversenken, daß man darin aufgehe. Eine Universität wiederum sei eine Einrichtung, wo sich Menschen sammeln, um sich in ein (meist exotisches) Interesse zu versenken. Eine „Lehre“, wie sie jetzt immer gefordert wird sei dort kaum vorgesehen, abgesehen von ein paar Arbeitstechniken. Ansonsten tue man lesen, excerpieren, sinnieren, diskutieren, formulieren – eben studieren. Zwischendurch entstünden Aufsätze, Bücher, meist in mikroskopischer Auflage, zu Themen und Problemen, für die sich drei Menschen auf der Welt interessierten. Arbeiten, sagte ich, könne man ja nebenbei, sogar einen Beruf erlernen, Bäcker, Bauer, Beamter, Baumeister, Bierbrauer werden. Aber der wesentliche Punkt an einem akademischen Leben sei: daß man etwas studiert, weil es einen interessiert. Aus keinem anderen Grund und zu keinem Zweck. Oder höchstens zu diesem: eine (idealerweise) sämtliche Klassengrenzen zwischen tumbem Geldadel, forscher Wachstumselite und ausgebeutetem Arbeitsvieh aufhebende Gemeinde von verschrobenen Vergeistigten zu schaffen oder zu erhalten, die keinerlei Nutzen hat, aber etwas in die Welt trägt, was dieser nicht schaden kann: Kultur. Deswegen, sagte ich, gebe es an einer anständigen Universität nur Geisteswissenschaften und nur Spezialisten und Fachidioten, die ihr Mikrofachinteresse heutzutage ständig verteidigen müssen gegen Effizienzfanatiker, Menschenmaterialzüchter, Technokraten und Profitfaschisten, die sie abschaffen wollen, weil hinten kein Geld rauskommt und sie die Seminarräume für ihre Drillmodule brauchen. Wozu jemand mit staatlicher Förderung Münzen deuten, Gedichte interpretieren und Handschriften katalogisieren müsse? Weil er will! Sie meinte, das ergebe doch keinerlei Sinn. Der Sinn, sagte ich, liege (immer übrigens) in der Sache selbst, und sie wandte ein, daß man das, was man erforsche, zum Nutzen der breiten Allgemeinheit einsetzen müsse, politisch, sozial, irgendwie. Es habe doch zu fast allen Zeiten Universalgelehrte gegeben, die Kaiser und Völker beraten hätten. Leute wie Athanasius Kircher, den viele für den letzten Mann halten, der alles wußte. Das sei doch ein Nutzen! Ja, sagte ich. Aber abgesehen davon, daß Wissen mit Bildung nur ganz am Rande zu tun hat und in diesem Rahmen lediglich bedeutet, daß man eine ungefähre Ahnung hat, wo in der Bibliothek man nachschauen könnte, war der Herr Kircher halt ein sehr typischer Universalgelehrter: Fast alles, was er in seine Bücher hineinschrieb, besteht aus Irrtümern, fal- schen Annahmen, fehlerhaften Schlüssen, Gerüchten, neurotischen Verschwörungstheorien, Mißverständnissen, frei Erfundenem und blankem Bullshit. Und wenn solche „Universalgelehrten“was bauten (meistens: innovative Waffen), flog es gerne mal unter Mitnahme ihres und anderer Leben in die Luft. In dieser Hinsicht unterschied er sich also kaum von einem modernen „Wirtschaftswissenschaftler“. Während z. B. einer, der sich für Kafka interessiert, irgendwann an einer Zeile, einem Wort hängenbleiben kann und den Rest seines Lebens damit zubringen wird, Aufsätze darüber zu verfassen, die niemand liest. Das, sagte ich, sei nicht verwerflich, sondern höchst sympathisch, und wenn schon sonst nichts, machen solche Leute immerhin nicht die Umwelt kaputt, beuten niemanden aus und führen keinen Krieg. Sowieso sei die alte Weisheit des Dschuang Dsi viel zu wenig bekannt, die da lautet: „Jedermann weiß, wie nützlich es ist, nützlich zu sein. und niemand weiß, wie nützlich es ist, nutzlos zu sein.“Und sie solle mich bloß nicht fragen, um was es in meiner Magisterarbeit gehe. Die Freundin „studierte“ein paar Wochen lustlos weiter, dann erzählte sie, sie habe bei Dschuang Dsi eine Sentenz entdeckt, die sie total fasziniere, ebenso wie der Niederschlag von dessen Weisheiten im erzählerischen Werk von Herbert Achternbusch. Deshalb habe sie ihr „Studium“geschmissen und sich einen Kellnerjob gesucht, um diese Windungen und Verbindungen studieren zu können. Leider gebe es eine Universität, an der sie solches ohne Zeitdruck und Belästigungen wegen mangelndem „Nutzen“tun könne, nirgendwo mehr, drum tue sie es zu Hause, allein und nutzlos, aber beglückt. Ach, sagte ich, laß sie uns doch gründen, deine Universität. Könnte der Menschheit in ihrem derzeitigen Zustand gar nicht schaden. Es muß ja keiner wissen.