ORTSGESPRÄCH
Mirjam Zadoff
mit Mirjam Zadoff
Von der Direktorenetage im fünften Stock aus hat sie den Königsplatz, die klotzigen ehemaligen Nazi-Prachtbauten und die von Gestrüpp überwucherten Reste der gesprengten „Ehrentempel“stets im Blick: Die gebürtige Innsbruckerin Mirjam Zadoff, zuletzt Professorin für Jüdische Studien an der Indiana University in den USA und nun neue Chefin im NS-Dokumentationszentrum, ist eine München-Rückkehrerin. Hier hatte sie einst studiert. Ihrem vielbesuchten Haus möchte sie behutsam eine neue Handschrift geben – und dabei die Erinnerungsarbeit emotionalisieren und noch mehr von Einzelschicksalen und von Alltagsrassismus in der Jetztzeit erzählen.
Frau Zadoff, durch den immer noch laufenden Prozess gegen die NSU-Unterstützer, durch viele Schlagzeilen rund um neuen und alten Antisemitismus, muss es für Sie und ein Haus wie das Ihre ja viele Themen geben. Was ist das für eine Zeit, in der Sie antreten?
Es herrscht eine Atmosphäre vor, in der man – mehr als noch vor ein paar Jahren – das Gefühl hat: Es gibt viel zu tun! Deswegen überlegen wir, wie wir zu neuen Wegen finden, die Leute davon zu überzeugen, dass unsere Themen im NS-Dokumentationszentrum weiterhin wichtig sind und dass sie viel mit den Menschen heute zu tun haben. Je weiter wir in der Geschichte voranschreiten, weg von der NS-Diktatur, und je kontroverser die Zeiten gleichzeitig wieder werden, desto wichtiger ist es, sich zu erinnern. Es gibt heute wieder so viele Anknüpfungspunkte an die NS-Zeit und den Holocaust. Das habe ich auch in meiner Uni-Tätigkeit in den letzten Jahren stark gemerkt: Wenn man über diese Themen spricht, landet man schnell in der Gegenwart. Das ist einerseits betrüblich, andererseits für die Vermittlung auch hilfreich.
Inwiefern?
Für viele Leute sind Themen nur dann interessant, wenn sie etwas mit ihnen selbst zu tun haben.
Anders als viele Museen in München, die Vergangenes konservieren und etwa prachtvolle Sammlungen hüten, ist Ihr Haus ja auch sehr gegenwartsbezogen. Draußen an der Tür steht „Lernort“.
Es geht um die Auseinandersetzung – mit der Vergangenheit, im Kontext dessen, was uns in der Gegenwart beschäftigt. Das können Themen wie etwa die Pressefreiheit sein. Die wird an vielen Orten in Europa und auch weltweit diskutiert. In liberalen oder eben doch nicht ganz so liberalen Demokratien nimmt man momentan wahr, dass bestimmte Traditionen plötzlich nicht mehr so ganz selbstverständlich sind.
Sie haben in Ihrem Haus ja viel mit jungen Menschen zu tun. Zuletzt war wiederholt zu lesen, dass man vermeintlich selbstverständliches Basiswissen über die Schrecken der NS-Zeit oft gar nicht mehr voraussetzen kann. Deckt sich das mit Ihren Erfahrungen? Ein angemessenes Bewusstsein für die NS-Zeit kann man nicht verordnen. Man muss gerade Schülerinnen und Schüler in interessante Fragestellungen einbinden – etwa durch Projektarbeit, auch mit neuen Medien, und zwar in einer Ästhetik, die sie anspricht. Tatsächlich zeigen neuere Studien, dass immer weniger Schüler wirklich Bescheid wissen über diese Zeit. Das hat oft damit zu tun, dass sie gar keinen Geschichtsunterricht mehr haben.
In bayerischen Mittelschulen.
Dort etwa. Geschichtliches wird in vielen Schulen oft rasch gestrichen. Gleichzeitig zeigen die Studien aber, dass viele Schüler Geschichtsunterricht tatsächlich spannend finden. Gerade die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus kann ja sehr vielfältig sein. Es gibt bei jungen Menschen das Bedürfnis, mehr über die Vergangenheit zu wissen und zu lernen. Und es gibt ja erfreulicherweise auch an vielen Schulen Initiativen, die sich gegen das Vergessen stellen.
Der Skandal rund um den Musikpreis „Echo“ging durch alle Zeitungen – und sicher auch für die Kids durchs Netz. Ist den jungen Leute, die vielleicht sogar Fans von Farid Bang oder Kollegah sind, wirklich nicht bewusst, um was da gestritten wird?
Ein lockerer Spruch über den Holocaust, nur weil er in den Reim passt oder weil er ein großes Tabu bricht, geht einfach nicht. Die Frage ist, ob die jungen Fans wirklich wissen, um was es geht – oder Farid Bang und Kollegah selbst? Ob sich etwas ändern wird, nachdem sie Auschwitz besucht haben? Dorthin wurden sie ja eingeladen. Ich kann es nur hoffen. Auch in meiner eigenen Erfahrung mit Studierenden merke ich oft, dass alle denken, man sei ja so liberal und die Themen seien omnipräsent und längst ausdiskutiert. Wenn man dann nur ein bisschen tiefer vordringt, spürt man schnell, dass das Geschichtswissen oft sehr oberflächlich ist.
Wie kritisch sehen Sie denn ein Museum zur NS-Zeit? Deutschland rühmt sich ja gern einer über Jahrzehnte gepflegten Erinnerungskultur. Darf man die Vergangenheit hinter Mauern musealisieren und sie damit möglicherweise auch einen Schritt von sich wegschieben?
Wir wollen nichts hinter Panzerglas erledigen und wegsperren. Ich kenne die lange Diskussion um unser Haus – ob wir nämlich ein Museum oder nicht doch besser ein Lern- und Erinnerungsort sein sollten. Die Antwort auf die Frage hängt für mich davon ab, wie wir Museen sehen.
Und wie lautet Ihre Antwort?
Ich finde schon, dass wir beides sein dürfen. Museen müssen für mich Orte des Austauschs sein. Sie sind natürlich oft aus der Idee der Bildung heraus entstanden, aber auch aus der Idee, bestimmten Zusammenhängen Sinn zu verleihen oder Erzählungen anzubieten. So etwas ist gut, aber auch problematisch: Weil man dann eine Geschichte erzählt, aber doch so viele andere erzählen könnte. Beim Thema Holocaust ist das Problem: Wir versuchen einem Ereignis eine Art von Sinn zu verleihen, das keinen Sinn macht. Aber nur wenn man einen Sinnzusammenhang herstellt, kann man damit umgehen. Wir versuchen zu verstehen, was eigentlich unverständlich ist.
Beim Reden über die Toten des Holocausts landet man schnell bei abstrakten Zahlenkolonnen. Einzelne Opfer verschwinden dahinter. Echtes Erinnern und Gedenken kann so ja wohl nicht aussehen?
Zahlen und oft auch die Fotos bringen uns meiner Meinung nach nicht viel weiter. Was wirklich wichtig ist, sind die einzelnen Erfahrungen und Geschichten. Über das tragische Scheitern. Aber auch über die Erfolge – etwa wenn Holocaust-Überlebende nach der Flucht oder in der Emigration wieder Boden unter ihren Füßen bekommen hatten und es schafften, neu anzufan-
gen. Ich möchte die Vielfältigkeit der Erlebnisse einfangen, auch wenn das Überleben die Ausnahme und nicht die Regel war. Wir bleiben in Ausstellungen und manchmal auch in der Forschung oft bei den Toten hängen. Auch in der Forschung über den Nationalsozialismus hat es lange gedauert, bis die Überlebenden eine Stimme bekamen. Eigentlich passierte das erst ab den 90er Jahren. Seitdem hat sich zum Glück viel verändert – auch dank der Medien.
Wie meinen Sie das?
Nehmen Sie den Einfluss von „Schindlers Liste“. Spielberg hat nach dem Film die Shoah Foundation gegründet. Dort gibt es das Visual History Archive mit über 50.000 Interviews von Überlebenden aus 32 Opfergruppen aus unterschiedlichen Ländern. Das ist ein unglaublicher Fundus, mit dem wir jetzt auch arbeiten können – gerade in Zeiten, in denen die Überlebenden, also die Zeitzeugen von damals, nach und nach verschwinden.
Sie wollen das Haus ja auch stärker in den internationalen Kontext einbringen. Wäre es dann für Sie möglich, aus diesem Archiv oder auch aus den Sammlungen von Yad Vashem an solches Interview-Material auch für München zu kommen?
Wir sollten auf jeden Fall mit dem Internationalen Holocaust Studienzentrum des Instituts für Zeitgeschichte zusammenarbeiten. Dort gibt es viel Zugänge und Anknüpfungsmöglichkeiten.
In dieser Stadt wurde ja schon lange über die Stolpersteine gestritten, die ja sehr konkret an Einzelschicksale von Menschen erinnern, die einst teilweise über Nacht aus München verschwanden und oft ermordet wurden.
Ich finde es legitim von Seiten der jüdischen Gemeinde, dass sie diese Form von Gedenken nicht möchte. Man kann die Stolpersteine übersehen. Ich finde es aber wichtig, dass überhaupt etwas gemacht wird. Der Streit geht um die Darstellungsformen. Wichtig ist, dass die Erinnerung sichtbar ist. Das ist in München noch nicht der Fall. Aber das wird sich hoffentlich ganz bald ändern, es gibt ja jetzt die Alternative mit Wand-Plaketten, die nun angebracht werden sollen.
Was die Darstellungsformen in Ihrem Haus angeht: Was wird sich da mittelfristig ändern?
Ich denke, die Dauerausstellung ist ein wichtiger Fundus, in den viel Wissen geflossen ist. Sie wird auch sehr gut angenommen – etwa von Gruppen und Schulklassen. Mit meinem Team möchte ich allerdings gerne in den Wechselausstellungen, aber auch auf anderen Ebenen im Haus – etwa im Foyer – noch stärker einen Kontrast anbieten.
Zum Charakter der Kernausstellung, die stark auf Texte setzt?
Die Dauerausstellung ist nüchtern und rational gehalten, was für ihren Zweck ja auch gut ist und auch international anerkennend wahrgenommen wird. An den anderen Orten möchte ich mit anderen, stärker emotionalen Darstellungsformen arbeiten. Dort sollen mehr Kunst, Medien, audiovisuelle Installationen zum Einsatz kommen. Ich möchte den Leuten Alternativen anbieten: Dann kann man sich zum Beispiel an einer Hörstation auch mal hinsetzen, sich aus dem allgemeinen Betrieb im Haus ausklinken und stärker reflektieren. Wann wird Ihr neuer Stil sichtbar werden?
Ich denke, man wird die behutsamen Veränderungen zunächst am Veranstaltungsprogramm, das wir laufend aktualisieren, zu spüren bekommen. Es fand hier im Haus in den letzten drei Jahren so viel statt, dass es mir schwer fiele zu sagen: Wir machen jetzt etwas ganz anderes! Vieles hat sich sehr erfolgreich etabliert, das werden wir fortsetzen. Trotzdem möchte ich stärker zielgruppenorientiert vorge-hen und auch die Bandbreite unserer Themen vergrößern.
Was wäre denn so ein neues Thema?
Etwa der Rassismus in den USA. Der bietet Anknüpfungspunkte.
Die Verlängerungslinien aus der Vergangenheit in die Gegenwart sind teilweise erschreckend. Ab wann kann man denn den NSU-Prozess, der noch nicht mal entschieden ist, kritisch beleuchten?
Gute Frage. Allerdings: Im Haus fand auch schon etwas dazu statt – etwa mit einer Podiumsdiskussion im Begleitprogramm zur Sonderausstellung „Nie wieder. Schon wieder. Immer noch. Rechtsextremismus in Deutschland seit 1945“. Wenn der Prozess abgeschlossen ist, kann man aber natürlich noch einmal nachlegen. Erinnerungsarbeit ist nie beendet. Und ich muss mir auch die Frage stellen, wie ich Leute erreiche, die ihre Schulzeit schon hinter sich haben. Um sie zu gewinnen, muss ich mir genau überlegen, welche Fragestellungen, welche Sorgen wir ansprechen wollen, damit wir die Leute kontinuierlich zu uns ins Haus bringen.
Wie kalt läuft es Ihnen denn über den Rücken, wenn die AfD in manchen Wahlkreisen jüdische Mitbürger vermeintlich aus hehren Motiven in Schutz nehmen möchte, nur um noch mal klar gegen junge Migranten aus muslimischen Ländern Front zu machen? Schwierige Zeiten, ernste Fragen: Aber so verdrehen kann man die Zusammenhänge dann doch nicht, oder?
Diese Taktik ist ein weit verbreitetes Phänomen. Da müssen Sie sich nur die österreichische FPÖ ansehen. Auf der einen Seite gibt man sich konziliant und bürgerlich, indem man vom „christlichjüdischen Europa“spricht. Anderseits lässt man dabei ausländerfeindlichen Ressentiments freien Lauf.
Das „christlich-jüdische Abendland“ist ja ein sehr problematischer Begriff. Das klingt so, als wären Christen und Juden in Europa über die Jahrhunderte hinweg Hand in Hand gegangen. Für mich ist das ein Kampfbegriff. Juden werden dafür instrumentalisiert. Wenn es um Ausgrenzung geht, ist das für viele Jüdinnen und Juden heikel: Weil irgendwann kommt das eben doch zu ihnen selber. Denn es gibt den rechten Antisemitismus in Deutschland eben doch sehr wohl. Es sind bewegte Zeiten. Aber letztlich werden wir ja auch in Bayern bald einen Antisemitismus-Beauftragen haben, der sich mit solchen Fragen beschäftigen wird.
München ist Ihnen ja selbst nicht fremd. War es doch hoffentlich keine Strafe, in die Stadt zurückzukommen?
(lacht) Es fühlt sich eigentlich sehr gut an. München hat sich in den vergangenen Jahren sehr verändert – in eine spannende Richtung. Man merkt stärker als früher, dass es eine migrantisch geprägte Stadt ist. In den USA habe ich Europa auch immer wieder sehr vermisst. Es ist schön, zurück zu kommen. Und es ist schön, in einen Sozialstaat zurück zu kommen. In Amerika merkt man recht schnell, wie viel fragiler die Sicherheit der Menschen und ihrer Existenzen ist. Es passiert dort sehr schnell, dass Leute alles verlieren.
Sie sind nun Teil einer Stadt mit einem lebendigen Kulturleben. Wie fühlt es sich an, wenn Sie durch das Museumsviertel vor Ihrer Haustür gehen und sich sagen: Eines dieser Häuser ist jetzt das meinige?
Puh! Es fühlt sich nach großer Verantwortung an. Aber es bereitet mir natürlich große Freude, in eine kulturell aufgeschlossene Stadt zu leben – und das auch aktiv mitgestalten zu können.