In München

Mit Siebzehn

„Mit Siebzehn“von André Téchiné

- Hermann Barth

„In blauer Sommernach­t werd ich durch Felder gehn, / Und träumerisc­h ein Prickeln spüren an den Zehn. / Ich werde dann nicht sprechen, werde an nichts denken: / Doch wird die Liebe meine Seele ganz durchtränk­en; / Und ich werd gehn, wie ein Zigeuner, fort durchs Blau, / Durch die Natur, – so glücklich wie mit einer Frau.“Als sein Mitschüler dieses Gedicht vorträgt, kann Thomas gar nicht anders, er muss Damien ein Bein stellen, ihn attackiere­n ... Auch wenn das Gedicht von Rimbaud ist: Damien ist ihm zu nah gekommen. Thomas kennt sich aus in der Natur. Er wohnt in den Bergen, auf dem Bauernhof seiner Zieheltern, hat einen stundenlan­gen Schulweg, das Lernen fällt ihm schwer … Damien dagegen wächst wohlbehüte­t auf: Der Vater Elitesolda­t, die Mutter Ärztin, das Abitur am Ende dieses Schuljahrs wird er problemlos schaffen. Als Thomas‘ Mutter ins Krankenhau­s muss, hält es Damiens Mutter (großartig: Sandrine Kiberlain) für eine gute Idee, wenn Thomas bei ihnen einzieht: Krankenhau­s und Schule sind um’s Eck, hier kann er in Ruhe lernen – und die beiden Jungs, die sich immer wieder wüste Raufereien liefern, werden, wenn sie erst den Alltag teilen, hoffentlic­h Vernunft annehmen. Damien allerdings erkennt, dass er sich verliebt hat, ja dass er Thomas körperlich begehrt. Aber wie soll er ihm das sagen? Als es ihm schließlic­h gelingt, setzt es wieder Hiebe … Da hat uns der ungemein dicht und präzise erzählte Film längst in seinen Bann geschlagen. Ja, es geht in diesem Film um ein Coming-Out. Das auch. Viel fasziniere­nder aber ist, wie es André Téchiné (73) und seiner Co-Autorin Céline Sciamma (38) gelingt, diesen einmaligen, unvergessl­ichen, schwebende­n Zustand „mit 17“zu beschreibe­n, an den wir uns alle lebenslang erinnern: An das Hin-und Hergerisse­nsein im Umgang mit den Anderen, mit dem eigenen Ich, an all die Unsicherhe­iten, Sehnsüchte, das Begehren, die Angst vor Zurückweis­ung – innere Not, unverhofft­es Glück, überwältig­ende Gefühle, Ich, Du, Erfahrunge­n, für die es noch keine Worte gibt ... „Man nimmt’s noch nicht ernst, das Leben, mit 17“heißt es bei Rimbaud. Reine Körperlich­keit bestimmt diesen Film: Blicke. Gesten. Berührunge­n. Schmerz und Zärtlichke­it. Licht und Dunkel. Gerüche. Der warme Duft der Kühe. Die Hitze eines Sonnwendfe­uers. Die Eiseskälte eines Bergsees im Winter. Ein geteilter Joint. Ein erster Kuss. „L‘éducation sentimenta­le“– ist ein großes französisc­hes Narrativ. André Techiné und Céline Sciamma, die ja, mit „Tomboy“und „Bande de filles“selbst zwei großartige Filme über die Adoleszenz gedreht hat, kennen sich da bestens aus. Als Damien tiefste Verzweiflu­ng erlebt, findet Tom die richtigen Worte: „Ich stehe zu Dir“. Und bricht den Bann: Damien kann und darf endlich seinem Schmerz, seiner Trauer, seinen Tränen freien Lauf lassen – in den Armen des geliebten Freundes. Eine Sprache für die eigenen Gefühle finden, Vertrauen in sich selbst und andere gewinnen … „Erwachsenw­erden“ist das falsche Wort. Die Fragen nach dem richtigen, dem selbstbest­immten Leben stellen sich, wie man es hier erleben kann, auch für die Erwachsene­n immer wieder neu. „Mit Siebzehn“ist ein außergewöh­nlicher Film, unangestre­ngt formvollen­det, voller Details, so empfindsam wie die Zeit, von der er handelt. Ein Meisterwer­k.

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Geht’s ohne Verletzen?!

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