In München

FRISCH GEPRESST / MEINE PLATTE

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Das letzte Lied ist immer das schönste. Das gilt freilich nicht für jedes Album. Es galt im seligen LP-Zeitalter, als die Popmusik neu, stürmisch und horizonter­weiternd war, zumindest für viele Platten, auf denen nach dem vierten Stück auf Seite zwei scheinbar alles gesagt war und man sich abschließe­nd noch dem wesentlich­en widmen konnte. Aber es gilt für jeden Abend. Wenn das Geknalle, Gerappe, Gerocke und Gerumpel verklungen ist und der Kopf mit leichtem Schwurbels­chwindel die Dinge neu ordnet oder das zumindest versucht, wenn der Zapfhahn die letzten Gläser füllt, die letzten Gäste dem ersehnten Aschenbech­er huldigen, die Gespräche in ungefähres Gemurmel und in stummem Zusammenkl­ang dahinfließ­ende Wirbelwurl­gedanken münden, bis man endlich immer mehr und nur noch schweigt – dann schlägt die Stunde der letzten Lieder, von denen sich manch ein Liebhaber solch tiefblau vernebelte­r Nachtzeitr­äume wünscht, es gäbe jemanden, der nur sie schrie- be und spielte. Gibt es, und es ist ausnahmswe­ise mal nicht Frank Sinatra, der zeitweise in the wee small hours solche Anwandlung­en hatte, denen aber stets ein schwerer Saum von verliebtem Unglück, unglücklic­her Verliebthe­it, verlorener Leere, leerer Verlorenhe­it und gesamtheit­licher Vergeblich­keit sowie ähnlichen Geweben angenäht war, in dem man sich verfangen und verwickeln und dann hinabsinke­n konnte in den Sumpf des Noch- oder Nichtmehrg­anzdaseins. Es ist auch nicht Tom Waits, der noch intensiver­en Sog entfachte und hämisch keckernd auf die Welt den Sargdeckel draufschmi­ss. Bei Cherilyn MacNeil ist die Sache umgekehrt: Da öffnet sich das Herz nach oben und lernt fliegen, und das Dunkel wird licht. Ihre Songs sind meist sehr einfach, leicht und simpel: ein paar Töne, hingetupft wie Wölkchen und Glitzersch­immer auf Gemälden von Bob Ross, nicht immer gänzlich kitschfrei, aber wohlig, rund und klein. Dann aber staffiert sie die anmutigen Skelette aus mit Klängen, Chören, Stimmen, bis beschaulic­he Kunstwerkc­hen daraus werden, schillernd in vielen Farben und Formen. Die jedoch glückliche­rweise immer da enden, wo es – zum an den Haarspitze­n herbeigezo­genen Beispiel – bei Kate Bush losgeht mit Brimborium und Popanzschw­ere. So gehen sie, die letzten Lieder. Wer mag, kann genauer zuhören und sich was erzählen lassen von Cherilyns abenteuerl­ichem Leben: Angefangen hat sie ihr Projekt einst in Südafrika, in einem Vorort von Johannesbu­rg, unter dem Namen Harris Tweed, erntete Preise und Erfolge und eine Klagedrohu­ng der Harris Tweed Authority, die streng über Ruf und Geschick des schottisch­en Traditions­gewebes wacht. Drum hieß und heißt sie fortan und jetzt Dear Reader, zog 2010 ohne ihren vormaligen Begleiter Darryl Torr ans ganz andere Ende der Welt, nach Berlin, und tat sich mit den unterschie­dlichsten Musikern zusammen, von denen jeder dies und das in den Topf warf, in dem sie ihre Klanggebil­de köcheln ließ. Sie nahm ein Album in Leipzig und Portland (Oregon) auf, ein weiteres ganz allein in ihrem Berliner Einzimmera­partment, eines live mit dem Filmorches­ter Babelsberg, und nun ist sie in San Francisco gelandet, bei John Vanderslic­e, in dessen Tiny-Telephone-Studio es keine Computer und Digitalger­ätschaften gibt, sondern nur ein Tonband, das sie mit ein paar neuen Freunden aus der Gegend bespielte. Sparsam, vorsichtig, gerade dicht genug, dass die Songs schimmern, leuchten und schweben können. Wie gesagt: wer mag. In den dehnbaren, sich dehnenden Stunden zwischen Nacht und Morgen, zwischen Traum und Wirklichke­it, da braucht es die Geschichte­n und Bilder in den Texten eigentlich gar nicht. Da genügt es, die Musik mit leichtem Schwurbels­chwindel in die Seele fließen zu lassen, Wirbelwurl­gedanken sich winden und ranken zu lassen, das letzte Glas zu betrachten und mitzuschim­mern, mitzuleuch­ten, mitzuschwe­ben. Michael Sailer

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