Was wäre wenn ...
Comics blicken in Zukunft und Vergangenheit
Reine Polit-Comics sind eher selten, Geschichten die vor einem bestimmten historischen und politischen Hintergrund spielen, haben dagegen Hochkonjunktur. Zu Recht – erstere sind oft mehr Anschauungs-, Fach- und Schulliteratur, letztere dagegen oft spannende Real-Fiktionen, die gerade wegen ihrem historischen Zusammenhang den Leser fesseln. Ausnahmen bestätigen die Regel: mit Die Präsidentin (Jacoby Stuart) von Autor François Durpaire und Zeichner Farid Boudjellal erschien ein Band, der nicht nur Frankreich das Fürchten lehren kann: Rechtspopulistin Marine Le Pen wird französische Staatspräsidentin. Warum? In der fundiert und wirklich spannend erzählten Polit-Fiktion gewinnt Le Pen im zweiten Wahlgang gegen den unpopulären amtierenden Präsidenten François Hollande, weil viele sozialistische Wähler zu Hause bleiben und die Konservativen das republikanische Bündnis gegen Le Pen nicht geschlossen unterstützen. Auf der Basis des Wahlprogramms des Front National (FN) entwerfen die Comic-Künstler ein Szenario der ersten Monate einer Le PenPräsidentschaft und da kann es einem, wie einer im Band vorgestellten Gruppe von jungen und alten Widerstandskämpfern und Migranten, Angst und Bange werden. Akribisch sezieren die Autoren den Wahnsinn aus Überwachungsstaat, wirtschaftlichem und politischem Selbstmord (Euro- und Nato-Ausstieg) und Nähe zu Rechtsextremismus. Komplex, erschreckend und spannend wie ein Krimi, der hoffentlich Fiktion bleibt. Menschen ändern sich und sind doch in ihrem Schicksal gefangen –dass man tragische Ereignisse vor politischem Hintergrund auch auf eine einfühlsame, fast poetische Weise erzählen kann, beweist der spanische Zeichner Javier De Isusi in seinem ersten auf Deutsch erschienen Band Ich habe Wale gesehen (Edition Moderne) über eine „Freundschaft im Baskenland“. Basierend auf einer wahren Begebenheit, verknüpft er hier drei Schicksale und Lebensgeschichten. Anton ist, nachdem sein Vater von der baskischen Widerstandsbewegung ETA ermordet wurde, Priester geworden, sein Jugendfreund Josu, der in der Organisation gekämpft hatte, sitzt als Terrorrist im Gefängnis. Dort trifft er auf Emmanuel, ein Söldner der paramilitärischen Gruppe GAL, die von der spanischen Regierung finanziert, als Killerkommando gegen die ETA eingesetzt wurde. Javier De Isusi zeichnet diese anspruchsvolle Geschichte mit feinem Strich und koloriert in gedeckten Blau- und Gelbtönen. Eine Entdeckung. Guy Delisle ist für seine Comic-Reportagen („Aufzeichnungen aus Jerusalem“, „Aufzeichnungen aus Birma“und „Pjöngjang“) bekannt, nun hat er mit Geisel (Reprodukt) die bereits auf der Leipziger Buchmesse viel beachtete Erzählung eines Martyriums in Gefangenschaft vorgelegt. Auch hier ein wahrer Hintergrund: 1997 wird Christophe André, Mitarbeiter der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen, im Nordkaukasus von tschetschenischen Separatisten entführt. Guy Delisle hat André einige Jahre später getroffen und die Geschichte seiner Geiselhaft in einem über 400 Seiten starken Band aufgezeichnet: 111 Tage Isolation, ohne jedes Wissen um das, was draußen passiert, ob man ihn für tot hält oder um seine Rettung bemüht ist. Wie Delisle die klaustrophobischen Um- und Zustände der Geisel in seiner langsamen und trotzdem hochspannenden Erzählung für den Leser spürbar macht, ist große Kunst, die lange nachhallt.