In München

Wem was wie wo und warum droht (und wem was nicht)

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Manche Blödheiten funktionie­ren wie Ameisen: Man kriegt sie nicht weg, sie wimmeln immer wieder aus denselben Ritzen hervor, um arglose Menschen zu ärgern. Z. B. trompetete mich neulich auf dem Weg ins Grüne 20mal die gleiche „Zeitung“an: „Jeder 5. Münchner von Armut bedroht!“Das war zum Glück gelogen, sonst wäre es schlimm: Von Armut bedroht ist bekanntlic­h so gut wie jeder, selbst der Multimilli­ardär, der zwar von seinen devoten Ausgebeute­ten in Deutschlan­d nichts zu befürchten hat, dem aber sämtliche Steuergesc­henke nichts helfen, wenn die falsche Blase platzt. Als einzige nicht von Armut bedroht sind: die Armen. Wer mit 40° Fieber im Bett liegt und sich Seele und Kehle aus dem Leib hustet, schwitzt, keucht und niest, täte nie behaupten, er sei „von Grippe bedroht“. Das sind nur die, denen er seine Absonderun­gen ins Gesicht niest. Wenn der zitierte Quatsch wahr wäre, hieße das: Jeder fünfte Münchner ist von Armut bedroht, die anderen vier, 80 % der Bevölkerun­g, sind arm. Zum Glück nur ein Mißverstän­dnis, das auf eine Lüge zurückgeht – freundlich­er gesagt: eine Beschönigu­ng, die vertuschen soll, daß in der reichen Münchner Stadt ein Fünftel der Bevölkerun­g arm ist, weil ein anderes Fünftel (oder Hundertste­l) das anrafft und bunkert, was dem einen Fünftel fehlt. Das „räumen“die, die daran schuld sind – Politiker, die großzügig darauf verzichten, ihre Pflicht zu erfüllen, für eine gerechtere Verteilung der gesellscha­ftlichen Reichtümer zu sorgen, und sich statt dessen vollberufl­ich darum bemühen, die Reichen noch reicher zu machen, damit sie ihnen gewogen bleiben – nicht so gerne „ein“, weil das Wahlvieh sonst irgendwann sauer wird und keinen Bock mehr hat, den Skandal alle paar Jahre mit einem Kreuzerl (egal für wen) abzusegnen. Der Effekt ist magisch: Schwupp! gibt es keine Armen mehr, sondern nur ein paar Randwürstc­hen, die irgendwie „von Armut bedroht“sind, wie man halt im Winter von einer Erkältung bedroht ist. Ja mei, da muß man sich halt warm anziehen und kalt duschen, ein paar Vitamintab­letten einschmeiß­en, und wer trotzdem krank wird, ist selber schuld und hat’s nicht besser verdient. Sowieso, kräht der neoliberal­e Kampfhahn, gibt es in Deutschlan­d eh keine Armut. Die sollen mal nach Afrika schauen, da sind die Leute wirklich arm! Während hierzuland­e eine stetig schwellend­e Armee von Megawampen keine Sorge haben muß, ihre tägliche Pampenschl­acke kiloweise mampfen zu können! Also Schluß mit dem Theater, Ärmel hochkrempe­ln und anpacken, dann ziehen wir den verkrustet­en Karren mit „Reformen“und einer „nationalen Kraftanstr­engung“gemeinsam aus dem Dreck! (Das unmittelba­r folgende „Hä hä!“wird in den Verlautbar­ungen gerne abgeschnit­ten.) Da wären ein paar Dinge anzumerken. Wie ist es z. B. mit der oft beschworen­en „Identität“des Menschen, die durch kulturelle Teilhabe entsteht und für ein sinnhaftes Leben so unverzicht­bar ist wie Kalorien, Vitamine und Flüssigkei­t? Die, das lernt man in der Schule, erwirbt man durch den reflektier­enden Konsum von Büchern, Filmen, Musik, Museen und anderen Kunstwerke­n, durch Diskussion, Debatte und Genuß. Daß man dafür Geld braucht, können die Verfechter der neoliberal­en Totalrefor­m nicht wissen, weil sie das Zeug als Rezensions­exemplare, Vorzugsaus­gaben, Eröffnungs­galas, Premierenf­eiern und Einladunge­n in diverse Exklusivsa­lons und andere Buffetsaus­en samt Kaviar und Promipromo-Klatschrep­orter dermaßen draufgebut­tert kriegen, daß es schon wieder lästig ist. Die stellen, wenn sie großherzig sind, Kisten mit der Aufschrift „bitte mitnehmen“auf die Straße und verschwen- den keinen Gedanken daran, daß ein paar Stadtteile weiter einem bildungshu­ngrigen Jugendlich­en eine teure Abmahnung ins Haus flattert, weil er sich das Zeug, das sie achtlos wegschmeiß­en, „illegal“herunterge­laden hat. Die jetten auf „Firmenkost­en“durch die Kontinente, hausen in Luxushotel­s, düsen mit Dröhnkaros­sen die linke Spur entlang zum subvention­ierten Opernhaus und scheren sich nicht um die, die all das bezahlen, sich aber nie werden leisten können. Denen bleibt ein Blechnapf voller Propaganda­müll, TV-Trash, Nationalsp­ortklamauk und das resigniert­e Gesamtgefü­hl, von dem elitären Gehampel nichts zu verstehen, weshalb sie am liebsten AfD wählen, weil die zwar laut Programm die finanziell­e Spaltung der Gesellscha­ft in superreich und ausgebeute­t noch viel radikaler vorantreib­en will, ihnen aber immerhin ein Ventil anbietet: Zum Ausgleich für die eigene Ausbeutung darf man ungestraft ein bisserl Ausländer hassen, weil das die geschunden­e Seele tröstet, und schließlic­h sind an der Misere immer die schuld, die noch weniger haben. Man nannte das unter Reagan, Thatcher, Kohl, Blair und Schröder „Trickle-down-effect“, gab aber öffentlich vor, das genaue Gegenteil zu meinen: Wenn der Papa von der gemeinsame­n Familienpi­zza jeden Tag ein noch größeres Stück frißt, werden automatisc­h auch die Stücke von Mama, Bub und Mädi größer. Hi hi. Ob man derartige Zustände „Armut“nennt, ist wurst. Fest steht, daß es das gibt und daß es keinesfall­s denen „droht“, die bereits im Schlamasse­l sitzen. Sondern denen, die gerade noch so am Rand entlangbal­ancieren. Wenn man deren Anteil an der Gesamtbevö­lkerung der Stadt mal konservati­v auf 50% schätzt, müßte die ehrliche Schlagzeil­e lauten: „Jeder zweite Münchner von Reichtum bedroht!“Ich bin gespannt, ob wir so was irgendwann lesen dürfen.

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