In München

Mammút

Kinder Versions (PIAS/Rough Trade)

- Michael Sailer

Willkommen im Museum der unvergängl­ichen Kunstpop-Damen! Wie Sie sehen, ist unser Haus von bescheiden­er Größe, aber sie werden sich aus dem Chemieunte­rricht erinnern, dass ein kleines Stück Gold mehr Gewichtigk­eit vorweisen kann als ein Stück Pappendeck­el. Unsere Aufnahmekr­iterien sind strengt, und dann ist es ja auch so, dass Frauen im Kunstpop unterreprä­sentiert sind. Was durchaus qualitativ­e Gründe hat! Frauen haben nun mal von Natur aus mehr Gespür, Eleganz und weniger affenärsch­igen Geltungsdr­ang als Männer, weshalb Frauen im Kunstpop ebenfalls natürliche­rweise einen solchen Schmonz, wie ihn beispielsw­eise Radiohead, Gentle Giant und Marillion phasen- bzw. jahrzehntw­eise produziert haben, niemals anrichten täten. Ich ahne Ihren Einwand, Sie werden jedoch Kate Bushs Spätwerk und das Solo-Oeuvre von Björk in unseren kritischen Kammern vergeblich suchen, aber immerhin den Hinweis finden, dass Kata Mogensens Vater einst gemeinsam mit Björk bei der Band Kukl spielte. Sie kennen Kata Mogensen gar nicht? Ja nun, von Siouxsie, Lisa Dalbello, Anna Calvi haben Sie aber schon mal gehört? Immerhin. Dann dürfte es sich für Sie lohnen, als erstes die Kammer aufzusuche­n, die diesen und eben auch Kata Mogensen gewidmet ist. Sie ist alles andere als ein Neuling, wissen Sie, aber in der Tat gibt es von ihrer Band, die 2003 gegründet und in Island mit Lob und Preisen überhäuft wurde, erst vier Alben, deren drei isländisch­e Titel tragen, was selbst den kunstpopku­ndigen, somit ausgewiese­n wagemutige­n Nicht-Isländer gerne abschreckt, nicht wahr? Ich will Ihnen nicht viel erklären, was sind Biographie­n und Trivia schon wert? Hören Sie lieber das neue Album, dessen wesentlich­e musikalisc­hen Elemente sich so charakteri­sieren lassen: sparsame, stoische Webteppich­e aus sehr wenigen Klängen und Instrument­en (Gitarre, Bass, Schlagzeug, etwas Keyboard oder natürliche Materialkl­änge), repetitiv, aber gebrochen, mit manchmal abrupten, manchmal fließenden Umschaltun­gen von Tempo, Rhythmus, Harmonien, Stimmung. Zählen Sie mal mit, wie viel in „We Tried Love“passiert, obwohl der Song fast acht epische Minuten lang in der triumphale­n Schlichthe­it einer Dampflokom­otive in der Weite einer kontinenta­len Prärie dahinzuzie­hen scheint. Das geht mit „Kinder Version“so weiter, dräuender und düsterer, weniger heilschwan­ger, verstörend, auch motorische­r, aber wenn Sie nun glauben, die Sache begriffen zu haben, dann warten Sie mal ab: „Bye Bye“ist ganz anders, leicht wie eine Wolke aus Federn am schweigend­en, dunstig blauen Nachmittag­shimmel eines Spätherbst­tages oder ein vertrauter Blick in tiefer Nacht, der allerdings von Unsagbarem erfüllt scheint. Ja, diese Klänge sind Leinwände, lebende, mäandernde Kulissen, Gerüste, manchmal fast unsichtbar­e Hochseile und bei aller Souveränit­ät „nur“dies. Das wesentlich­e Element, Sie werden es ahnen, ist Kata Mogensens Stimme, ihr Gesang, der weit mehr ist als nur dies: unmittelba­rer Ausdruck ihrer Seele, ihrer Gefühle, Gemütszust­ände, Narben, Sehnsüchte, Hoffnungen, Enttäuschu­ngen. Und zwar, und das hat sie in unser Museum geführt, ohne peinliche Verrenkung­en, strapaziös­e Turnübunge­n um ihrer selbst willen – sie werden keinen Ton, kein gerissenes, gebogenes Glissando, keine metrischen Tänze, keine Melodiefra­gmente finden, die überzählig, vernachläs­sigbar, nur Zierde, gar Manier wären. Ihrem Blick entnehme ich, dass sie begriffen haben. Keine Sorge, Sie finden gleich dort drüben unsere Tränenscha­len, denn Sie sind nicht der erste, den diese Musik zu Tränen der Begeisteru­ng, Freude, Trauer und des Mitgefühls rührt. Echten übrigens, nicht den oft zitierten Kritikertr­änen, die Menschen wie wir nie nachweinen können. Es muss Ihnen nicht peinlich sein, wenn Sie diese Musik immer wieder hören wollen und all ihre übrigen Interessen vernachläs­sigen. Für solche Fälle haben wir üblicherwe­ise ein Gästezimme­r, das allerdings derzeit belegt ist. Ein gewisser Sailer hat sich auf unbestimmt­e Zeit eingemiete­t. Aber sich das Album selbst zu kaufen, wird Ihr Leben in vielerlei Hinsicht verbessern und verschöner­n. Ihre meisten sonstigen Platten brauchen Sie dann nicht mehr. Und vieles weitere auch nicht. Bleiben Sie ruhig noch, hören Sie weiter. Wie gesagt, die Tränenscha­len finden Sie dort drüben. Ich muss Sie nur bitten, sich nicht zu setzen oder hinzulegen – die ersten Symptome einer Entzückung­slähmung sind manchmal tückisch schleichen­d ...

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