Mammút
Kinder Versions (PIAS/Rough Trade)
Willkommen im Museum der unvergänglichen Kunstpop-Damen! Wie Sie sehen, ist unser Haus von bescheidener Größe, aber sie werden sich aus dem Chemieunterricht erinnern, dass ein kleines Stück Gold mehr Gewichtigkeit vorweisen kann als ein Stück Pappendeckel. Unsere Aufnahmekriterien sind strengt, und dann ist es ja auch so, dass Frauen im Kunstpop unterrepräsentiert sind. Was durchaus qualitative Gründe hat! Frauen haben nun mal von Natur aus mehr Gespür, Eleganz und weniger affenärschigen Geltungsdrang als Männer, weshalb Frauen im Kunstpop ebenfalls natürlicherweise einen solchen Schmonz, wie ihn beispielsweise Radiohead, Gentle Giant und Marillion phasen- bzw. jahrzehntweise produziert haben, niemals anrichten täten. Ich ahne Ihren Einwand, Sie werden jedoch Kate Bushs Spätwerk und das Solo-Oeuvre von Björk in unseren kritischen Kammern vergeblich suchen, aber immerhin den Hinweis finden, dass Kata Mogensens Vater einst gemeinsam mit Björk bei der Band Kukl spielte. Sie kennen Kata Mogensen gar nicht? Ja nun, von Siouxsie, Lisa Dalbello, Anna Calvi haben Sie aber schon mal gehört? Immerhin. Dann dürfte es sich für Sie lohnen, als erstes die Kammer aufzusuchen, die diesen und eben auch Kata Mogensen gewidmet ist. Sie ist alles andere als ein Neuling, wissen Sie, aber in der Tat gibt es von ihrer Band, die 2003 gegründet und in Island mit Lob und Preisen überhäuft wurde, erst vier Alben, deren drei isländische Titel tragen, was selbst den kunstpopkundigen, somit ausgewiesen wagemutigen Nicht-Isländer gerne abschreckt, nicht wahr? Ich will Ihnen nicht viel erklären, was sind Biographien und Trivia schon wert? Hören Sie lieber das neue Album, dessen wesentliche musikalischen Elemente sich so charakterisieren lassen: sparsame, stoische Webteppiche aus sehr wenigen Klängen und Instrumenten (Gitarre, Bass, Schlagzeug, etwas Keyboard oder natürliche Materialklänge), repetitiv, aber gebrochen, mit manchmal abrupten, manchmal fließenden Umschaltungen von Tempo, Rhythmus, Harmonien, Stimmung. Zählen Sie mal mit, wie viel in „We Tried Love“passiert, obwohl der Song fast acht epische Minuten lang in der triumphalen Schlichtheit einer Dampflokomotive in der Weite einer kontinentalen Prärie dahinzuziehen scheint. Das geht mit „Kinder Version“so weiter, dräuender und düsterer, weniger heilschwanger, verstörend, auch motorischer, aber wenn Sie nun glauben, die Sache begriffen zu haben, dann warten Sie mal ab: „Bye Bye“ist ganz anders, leicht wie eine Wolke aus Federn am schweigenden, dunstig blauen Nachmittagshimmel eines Spätherbsttages oder ein vertrauter Blick in tiefer Nacht, der allerdings von Unsagbarem erfüllt scheint. Ja, diese Klänge sind Leinwände, lebende, mäandernde Kulissen, Gerüste, manchmal fast unsichtbare Hochseile und bei aller Souveränität „nur“dies. Das wesentliche Element, Sie werden es ahnen, ist Kata Mogensens Stimme, ihr Gesang, der weit mehr ist als nur dies: unmittelbarer Ausdruck ihrer Seele, ihrer Gefühle, Gemütszustände, Narben, Sehnsüchte, Hoffnungen, Enttäuschungen. Und zwar, und das hat sie in unser Museum geführt, ohne peinliche Verrenkungen, strapaziöse Turnübungen um ihrer selbst willen – sie werden keinen Ton, kein gerissenes, gebogenes Glissando, keine metrischen Tänze, keine Melodiefragmente finden, die überzählig, vernachlässigbar, nur Zierde, gar Manier wären. Ihrem Blick entnehme ich, dass sie begriffen haben. Keine Sorge, Sie finden gleich dort drüben unsere Tränenschalen, denn Sie sind nicht der erste, den diese Musik zu Tränen der Begeisterung, Freude, Trauer und des Mitgefühls rührt. Echten übrigens, nicht den oft zitierten Kritikertränen, die Menschen wie wir nie nachweinen können. Es muss Ihnen nicht peinlich sein, wenn Sie diese Musik immer wieder hören wollen und all ihre übrigen Interessen vernachlässigen. Für solche Fälle haben wir üblicherweise ein Gästezimmer, das allerdings derzeit belegt ist. Ein gewisser Sailer hat sich auf unbestimmte Zeit eingemietet. Aber sich das Album selbst zu kaufen, wird Ihr Leben in vielerlei Hinsicht verbessern und verschönern. Ihre meisten sonstigen Platten brauchen Sie dann nicht mehr. Und vieles weitere auch nicht. Bleiben Sie ruhig noch, hören Sie weiter. Wie gesagt, die Tränenschalen finden Sie dort drüben. Ich muss Sie nur bitten, sich nicht zu setzen oder hinzulegen – die ersten Symptome einer Entzückungslähmung sind manchmal tückisch schleichend ...