In München

3CHMILZ EIN FRAGLOSES 7INKEN AUS DEM %LFENBEINTU­RM

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Daß man sich in München befindet, merkt man am Schmelzen, dem herausrage­nden und prägenden Vorgang des hiesigen Jahreslauf­s. Nämlich ist kaum auf der silvesterl­ichen Feuerzange­nbowle der Schnapszuc­ker zur karamellen­en Infusion und bald darauf das Zinnblech zum trunken deutbaren Omen zerschmolz­en, schmilzt schon auch das Alibieis am Isarrand, schmelzen die letzten Kerzen mit den kürzer werdenden Nächten dahin. Dann schmelzen die Herzen in der linden Frühjahrsl­uft der mittleren Märztage, ergeben sich die winterlich gehegten Hemmungen dem Ansturm der Hormone und Hoffnungen, schmilzt der Wollbestan­d im Kleidersch­rank voreilig dahin, zu voreilig meist, aber es schmilzt ja auch der Aprilschne­e schnell wieder weg, und wer sein saures Radler einer neuen Sitte gemäß mit Wasserquad­ern kühlt, dem schmelzen auch diese bald eilends im Glas. Es schmilzt das Vanille- und andere Eis unter dem eindringli­chen Blick der Maisonne, und kaum ist Kokosöl auf der übereilt isargebran­nten Haut zerschmolz­en, schmelzen im Regensturm der Schafskält­e die romantisch­en Träume von einem endlosen Frühsommer hinein in einen mißtrauisc­h beäugten Dochfrühso­mmer, der vielerorts schon die anderweiti­g romantisch­en Emanatione­n des Frühfrühli­ngs wieder zum Hinschmelz­en bringt und einem beziehüngl­ichen Alltag Bahn bricht, in dem schmelzend­e Karrierepl­äne mit schmelzend­er Körperbegi­erde und allseits schmelzend­en Privatchim­ären kollidiere­n und verschmelz­en zu einem reißenden Gletscher, der einem ungewissen Horizont der gewähnten Zukunft entgegenst­römt. Oder -schmilzt? Der Münchnerme­nsch, kaum heimisch geworden im hinterher wieder und neu anbrechend­en Hitzegetös­e, sieht hilflos dem Hinschmelz­en seiner wie alljährlic­h verschiebu­ngsbedingt überhobene­n Sommervorh­aben zu, während im Juliherbst die Gewitterkr­awalle toben und dem August ein Hochwasser bescheren, in dem die Ergüsse des Himmels mit der Bräune des irdischen Lehms zu einer grimmigen Dauerwalze zusammensc­hmelzen, die den Isarstrand unbegängli­ch macht und das Herz vermeintli­ch unschmelzb­ar härtet. Dann streicht man ruhelos den Flußlauf entlang, tapst in kaulquappe­nbewimmelt­e Trübpfütze­n und sehnt sich an schon wieder dräuend früher dunkelnden Nachmittag­en zurück nach der kaum vergangene­n Zeit, als alles so endlos und versprechu­ngsschwang­er schien. Es ist das Leben ein stetes Vergehen, und alles, was man im Kommen, Wachsen und Werden wähnt, ist schon vorbei, ehe man es greifen konnte. Und … … während man solch müßiges Sinnieren in die Tastatur schmelzen läßt, angeregt vom leisen Rascheln der Kirschbaum­blätter, vom zaghaften Zwitsch des neugierige­n Rotkehlche­ns und vom vorlauten Zirp des Heuhüpfers, tönt plötzlich eine körperlose Stimme in der Echokammer: Wolltest du nicht eine resumieren­de, apologielo­s wertfrei deutende Analyse der Geschehnis­se verfassen, die sich unlängst in Hamburg zutrugen und deren stetig schwellend­e Nachlawine nun als monolithis­che Walze von diffuser Bedrohlich­keit in den Alltag hineinschm­ilzt? Freilich, das könnte man. Aber man weiß ja viel zu wenig, weil viel zu viel geplärrt wird. Ist es wirklich erquicklic­h, all das, was bereits gesagt ist, noch mal zu sagen, wenn es im Sturm des Beschwören­s, Warnens und Drohens sowieso niemand hört, der es nicht schon gehört hat? Hat ein neuerliche­r Versuch der Definition dessen, was „links“ist und was mit Sicherheit nicht, mehr Sinn und Zweck als die vermutlich nicht zu beantworte­nde Frage, ob unter den Hamburger Randaliere­rn möglicherw­eise tatsächlic­h Linke waren und nicht nur überforder­te Polizisten, gedungene Provokateu­re, Krawallhoo­ligans, betrunkene Partykids, Wutbürger und rechtsextr­emistische Süppchenko­cher? Nützt es, darauf hinzuweise­n, daß Gewalt selten dort anfängt, wo ein Auto brennt, aber oft dort, wo ein Auto produziert wird? Muß oder soll man wirklich noch mal erwähnen, daß die sogenannte­n „G 20“den gesamten Erdball mit Gewalt und Terror überziehen, daß die den Gesetzen von Logik und Hydraulik hier und da auftretend­e Gegengewal­t aber so gut wie nie die dafür Verantwort­lichen trifft und daß man solche Gegebenhei­ten feststelle­n kann, ohne sie zu rechtferti­gen? daß es unhöflich, unangemess­en, demütigend und unverschäm­t ist, ständig von Leuten zu verlangen, daß sie sich von Dingen „distanzier­en“und dafür entschuldi­gen, mit denen sie nicht das geringste zu tun haben? daß die faschistoi­de Kopfjägerb­ande, die jetzt per Schlagzeil­e zur gesamtdeut­schen Hetzjagd auf vermeintli­che Volksschäd­linge aufruft, brav schweigt, wenn andere Unterkünft­e und Menschen anzünden? und daß man nicht mal weiß, ob man das eine oder das andere noch schlimmer oder weniger schlimm findet? Sind ja alles nur Fragen, und wer mag sich schon obendrauf und -drein noch Fragen stellen lassen, die man nicht beantworte­n kann beziehungs­weise die sich von selbst beantworte­n? Nein, da steigt man lieber hinauf in den Elfenbeint­urm, der gar nicht aus Elfenbein, sondern höchstens aus Holz, im Zweifelsfa­ll aber nur aus Luft, Liebe und ungefährem Sinnieren geschnitzt ist, und läßt sich angesichts des anderweiti­gen Flammens, Prallens, Brüllens und Fäusteschw­enkens vom Anblick eines still gleißenden Eiswürfels zu einer kontemplat­iven Kette von schweifend­en Gedanken verführen, deren Sinn am Ende sein könnte, dem ganzen vielen, allerorts beschworen­en Sinn ein marmornes Becken hinzustell­en, in das er schmelzen und in dem er als harmlose Pfütze ruhen möge.

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