Sehr gut für die Sparer
Sparkasse Ulm verliert Scala-Prozess – Gut verzinste Verträge haben Bestand – Berufung angekündigt
ULM - Zufrieden steht am Freitag ein älterer Herr vorm Ulmer Landgericht und blinzelt in die Sommersonne. Dass der Pensionär, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will („Wissen Sie, der Neid, die Nachbarn und die Einbrecher!“), gerade einen in der Finanzwelt viel beachteten Triumph errungen hat, sieht man ihm nicht an. Doch im sogenannten Scala-Prozess hat das Ulmer Landgericht soeben nicht nur dem Pensionär und seinen drei Mitstreitern, sondern allen Scala-Sparern mit 21 000 Verträgen Recht gegeben. Sie können aufatmen: Die Sparkasse Ulm muss die alten, gut verzinsten Verträge einhalten, auch wenn es daran nichts mehr zu verdienen gibt oder das Institut sogar Geld verliert. Weiter darf die Sparkasse die Verträge nicht kündigen und muss weitere Einlagen annehmen. Und die Zinsen müssen neu berechnet werden. Im Einzelfall geht es um bis zu mehrere Tausend Euro. Mit der Konsequenz, dass die Sparkasse Ulm im für sie ungünstigsten Fall um einen deutlich zwei- oder sogar dreistelligen Millionenbetrag bangen müsste. Darum will das Institut in Berufung gehen.
Stufenweise Steigerung
Die Sparkasse Ulm hatte zwischen 1993 und 2005 die Scala-Verträge mit ihren Kunden abgeschlossen. „Scala“ist das italienische Wort für Treppe. Und diese haben Stufen: Stufenweise können die Kunden ihre monatlichen Raten auf bis zu 2500 Euro erhöhen. Bis zu 25 Jahre lang.
Stufenweise steigt auch der Bonus, den es zusätzlich zum aktuellen Grundzins gibt. Nach 20 Jahren liegt der Zinsaufschlag bei einem Höchstwert von 3,5 Prozent. Damit konnten Sparkassen-Kunden trotz Niedrigzinsphase bereits auf Zinsen von mehr als 3,5 Prozent kommen – und womöglich künftig sogar auf mehr als vier Prozent. Und sie können ihr Geld flexibel entnehmen, jederzeit beliebige Summen abheben, die Sparraten aussetzen oder den Vertrag kündigen. „Diese Konditionen waren in Hochzinsphasen nicht wirklich attraktiv“, sagt Finanzexperte Martin Faust. Gerade in den 1990er-Jahren habe man noch relativ hohe Zinssätze gehabt. „Heute ist das ein sehr attraktives Angebot für Kunden, die eine sichere und flexible Anlage wünschen“, erklärt der Professor an der Frankfurt School of Finance & Management.
Diese Konditionen bietet heute kein Institut mehr an: In Zeiten von bestenfalls einem Prozent Zinsen auf Guthaben brechen Banken und Sparkassen ihre Geschäftsmodelle weg. Vielfach versuchen die Banker, Altverträge zu beenden oder wenigstens zu deckeln. So geschehen beim Kläger: „Als ich eines Tages die Spareinlagen erhöhen wollte, wurde ich erst in der Filiale, dann vom Vorstand abgewiesen“, berichtet der Pensionär nach der Urteilsverkündung.
Wie dem Ruheständler ging es vielen weiteren Scala-Kunden: Mit Alternativen wollte die Bank sie aus den gut verzinsten Verträgen locken – ansonsten drohte die Kündigung. Mit Erfolg: Kunden mit 14 000 Verträgen unterschrieben Alternativangebote – wohl auch aus Angst, am Ende noch schlechter dazustehen. Gekündigt wurde letztlich niemandem. Etwa 4000 Sparverträge sind für die Bank ohnehin unproblematisch, weil sie entweder bald auslaufen oder nur mit niedrigen Beträgen bespart werden. Doch 3000 Kunden mit ihren Verträgen warteten ab, wenige setzten sich gegen den Wechsel zur Wehr. Wie der nun obsiegende Pensionär. Er selber sei gut abgesichert, sagt der Ruheständler, habe aber dennoch gegen das Verhalten der Sparkasse Ulm geklagt: „Aus sozialen Gründen, denn ich dachte an die vielen Scala-Kunden, die mit den Verträgen ihren Lebensabend absichern wollten, nun aber enttäuscht wurden.“
Mit dem Ulmer Christoph Lang fanden die Kläger einen Rechtsanwalt, der sich gerne mit der Sparkasse anlegte, ebenso gerne aber einen Vergleich („Wir hätten das ganz ruhig in Ulm unter Ulmern regeln können!“) geschlossen hätte. Lang vertritt derzeit mehr als 70 Sparer und setzt sich seit Jahren mit der Bank auseinander. Da das deutsche Recht in diesem Fall keine Sammelklage vorsieht, wird jeder Fall einzeln verhandelt.
Niederlage auf ganzer Linie
Entsprechend zufrieden ist der Advokat nach dem jetzt gefällten Urteil (siehe auch Hintergrundkasten): „Wir haben nicht nur praktisch gesichert, dass es nie zu Minuszinsen kommen kann, die von den Bonuszinsen abzuziehen wären, sondern dass jetzt auch ein ordentlicher Aufschlag draufkommt.“In der Spitze, so Lang, gibt es Verträge, „die bis zu 4,7, 4,8 Prozent Gesamtzinsen haben.“Voraussetzung: die Rechtskraft des Urteils.
Für die Sparkasse Ulm bedeutet das Urteil eine Niederlage auf der ganzen Linie. Noch im Gerichtssaal kündigt Pressesprecher Boris Fazzini Berufung an, denn: „Die Urteile des Landgerichts Ulm heben das bisher allgemein anerkannte Verfahren der Zinsermittlung völlig aus den Angeln.“Er lässt durchblicken, dass die Kammer aus Sicht der Sparkasse gar nicht kompetent sei: „Wir waren und sind nach wie vor der Ansicht, dass dieses hochkomplexe Thema nur in Form eines Gutachtens wirklich erfasst werden kann.“
Wenig später äußert sich der Vorstandsvorsitzende der Sparkasse Ulm, Manfred Oster: „Auf den ersten Blick haben wir den sicheren Eindruck, dass die Entscheidungen des Landgerichts die ursprünglichen Vertragsgefüge erschüttern“, erklärt er. „Die Entscheidungen der Kammer nehmen uns jeden unternehmerischen Spielraum, so dass wir im Interesse aller Kunden und der gesamten Region zu der Berufung verpflichtet sind.“Er betont die grundsätzliche Bedeutung: Das Landgericht stelle mit den Entscheidungen auch die bislang branchenübliche Zinsberechnung zum wirtschaftlichen Nachteil möglicherweise der gesamten Kreditwirtschaft in Frage. Könnte die Sparkasse Ulm das Zinsrisiko aus den Scala-Verträgen überhaupt schultern? Auf den ersten Blick ist Geld genug da, um die Scala-Verträge erfüllen zu können: Für das Jahr 2013 hatte die Sparkasse die Rückstellungen für zukünftige Zinsbelastungen auf gut 29 Millionen Euro angegeben, für 2014 gab es auf Anfrage keine Angaben. Auch der Gewinn ist ordentlich: Vor Bewertung erzielten die Ulmer im vergangenen Jahr ein Ergebnis von 50 Millionen Euro. Das sind zwar zehn Millionen Euro weniger als im Vorjahr, aber mit 0,89 Prozent der Durchschnittsbilanzsumme steht das Geldhaus gut da. Doch zum konkreten Risiko will Sprecher Fazzini sich nicht äußern. Erst auf der zweiten Seite der Pressemeldung warnt dann Sparkassenchef Oster: „Infolge der heutigen Urteile sehen wir mehr denn je das Risiko, die Ertragskraft der Sparkasse Ulm in absehbarer Zeit über Gebühr zu belasten.“Im Klartext: Sollten alle ScalaKunden bis zur Höchstgrenze einzahlen, käme die Sparkasse in ernsthafte Schwierigkeiten, könnte ihr Kerngeschäft, die Kreditvergabe, nicht mehr betreiben.
Hausgemachte Probleme
In der Verbraucherzentrale BadenWürttemberg hat Niels Nauhauser, Abteilungsleiter Altersvorsorge, Banken, Kredite, wenig Mitleid mit der Sparkasse, nennt „die Probleme der Institute (...) hausgemacht, denn niemand hat die Institute gezwungen, Verträge mit langfristigen Zinsen zu verkaufen.“
Nauhauser begrüßt das Urteil: „Auch Kunden, die die Alternativangebote der Sparkasse angenommen hatten, profitieren.“Sie könnten argumentieren, „dass sie die Alternativangebote nicht angenommen hätten, wenn sie gewusst hätten, dass die Sparkasse anders als behauptet kein Kündigungsrecht hat.“Die Herstellung des alten Vertragszustands verlangen oder eine Entschädigung sei denkbar. Nauhauser weiter: „Zum zweiten können alle Scala-Kunden verlangen, dass die Zinsen ihres Vertrages neu berechnet werden. Die Verbraucher sollten aber einen langen Atem mitbringen, die Sparkasse war bislang hartnäckig und unnachgiebig. Möglich, dass die Sparkasse alle Ansprüche zurückweist und erst der Bundesgerichtshof ein Urteil sprechen muss.“
Der siegreiche Pensionär sieht den weiteren Rechtsweg über das Oberlandesgericht zum Karlsruher Bundesgerichtshof mit gemischten Gefühlen: „Ich will die Sparkasse Ulm ja nicht kaputt machen“, sagt er, „ich bin und bleibe Kunde.“Sein Problem: „Das Vertrauen zum Vorstand ist futsch, er hat alles falsch gemacht. Verträge sind Verträge, es muss Vertrauen im Bankgeschäft bleiben. Darum klagen wir weiter – aus Prinzip.“