Ipf- und Jagst-Zeitung

Getragen von Können und Hormonen

Andreas Wellinger fliegt in Oberstdorf weiter als alle anderen und wird zweimal Zweiter

- Von Joachim Lindinger

- Beim Ausfahren ruderte Andreas Wellinger mit den Armen, als wolle er alle Anspannung über die Fingerspit­zen loswerden. Dann hieb er die Faust gegen eine Werbebande; das Rudern hatte nicht genügt. Fortan zierte ein breites Grinsen das Gesicht des 21-Jährigen. Lang nicht mehr, wird er später sagen, „hab’ ich so viel Adrenalin im Körper gehabt wie nach dem ersten Durchgang“. 234,5 Meter, Schanzenre­kord auf der umgestalte­ten Heini-KlopferSki­flugschanz­e, Grundlage für einen zweiten Platz beim Weltcup-Fliegen in Oberstdorf am Samstag. Das Formhoch hält an, die Konkurrenz schaut hin. Genau. Kamil Stoch etwa, Weltcup-Führender, Doppel-Olympiasie­ger 2014 und hinter Andreas Wellinger Dritter: „How did you do this?“– „Wie hast du das gemacht?“

Krafts Flüge sind mehr Punkte wert

Die Frage hätte er wiederhole­n können, keine 24 Stunden später. Ehe Regen und Wind(e) die Herrschaft übernahmen im Stillachta­l, ehe der Sonntagswe­ttbewerb abgebroche­n wurde, hatte sich Andreas Wellinger auf 238 Meter tragen lassen. Von Können, Hormonen, kollektive­r Euphorie der diesmal 14 200 Zuschauer (am Samstag: 18 800). 238 Meter! Rekord gebrochen! Nur einer war besser. Nicht weiter: Vortagssie­ger Stefan Kraft vom SV Schwarzach im Pongau. Seine 235,5 Meter brachten – den schlechter­en Bedingunge­n und der besseren Landung geschuldet – 12,6 Punkte mehr. Rang eins. Ein Déja vu.

Skifliegen hinterläss­t viele staunend. Die, die’s tun, schwärmen. Vom „weiter, schneller, höher“(Stephan Leyhe), vom Wissen, „jetzt springt man mit hundert km/h ins Nichts und dann fängt einen der Wind irgendwo auf“(Andreas Wank), vom gefühlt ewigen „Entlanggle­iten am Hang“(Richard Freitag), von ... Die, die weit jenseits der Hillsize-Marke (225 Meter) landen – mit einem blitzsaube­ren Telemark! – dürfen ihren Flugschrei­ber hernach gern öffentlich auswerten. Also, Herr Wellinger? Ihre Samstagsre­korddaten? „Man merkt natürlich schon beim Absprung: Passt’s halbwegs oder nicht? Und dann sucht man sich erst mal ’ne Flugpositi­on und ab 120, 130 Metern spürt man: Es geht weit! Das Gefühl, dass man aber wirklich 225 oder 235 springt – das bekommt man erst die letzten 50 Meter so richtig. Ja, und da konnt’ ich’s auch in der Luft schon ein Stück weit genießen.“

Anlass genug hatte der Mann vom SC Ruhpolding. Fand auch Werner Schuster. „Wie aus einem Guss“hatte der Bundestrai­ner Flug Nr. 1 empfunden; kaum weniger wertvoll war danach der samstäglic­he zweite. Auf 222,5 Meter, bei mehr Rückenwind, von einer Luke tiefer. Werner Schuster: „Es ist gar nicht so leicht, auf so einen nahezu perfekten Sprung dann den nächsten zu machen.“Andreas Wellinger aber habe „da fast nichts zugelassen, hat vielleicht ein bisschen mehr im Wind gestanden“. Das reichte zur besten Punktausbe­ute im Finaldurch­gang. Es reichte nicht, um den überragend­en Stefan Kraft zu überholen: Der hatte mit 227,5 Metern bei stark verkürztem Anlauf vorgelegt; 218 Meter retteten ihm 5,1 Zähler Vorsprung. Vom deutschen Coach gab’s Anerkennun­g („Der Stefan hat ein unglaublic­hes System“), vom Sieger ein Eingeständ­nis: „Beim Letzten bin ich doch ein bissl nervös geworden, da hat’s der Andi sehr spannend gemacht.“Der „Andi“des Jahres 2017 betrieb da bereits wieder Flugschrei­ber-Analyse. Selbstkrit­isch: „Im Übergang hätt’ ich’s vielleicht noch ein wenig besser hinkriegen können.“

Skifliegen hatte er groß auf seine Saison-Agenda geschriebe­n, Werner Schuster. Nicht immer war da zuletzt alles Potenzial genutzt worden. Kerniger Absprung, das passte – wie jedoch gleichzeit­ig „mehr Harmonie, mehr Fluss“reinbekomm­en? „Da geht’s um ein paar Grad.“Und um das Verinnerli­chen, wann, wo und wie der Sportler in den Flug eingreifen kann, um seine Position zu optimieren. Man ging es an, der Bundestrai­ner holte Roar Ljøkelsøy in seinen Stab, den Skiflug-Weltmeiste­r von 2004 und 2006. Dessen Perspektiv­e: die des ehemaligen (Weltklasse-)Athleten. Dessen Fingerzeig­e: wertvoll.

Das „überragend­e Gefühl“reist mit

Auch für einen Andreas Wellinger im Flow offenbar: Der Übergang stimmte am Sonntag! Und die Landung? „Ein Telemark geht bei fast 240 Metern aus der Höhe nicht mehr“, entschuldi­gte Werner Schuster seinen neuen Vorzeigefl­ieger. Der sah das nicht anders, hatte auch mit der JuryEntsch­eidung keine Probleme: „Ich hätt’ Stefan schon gern noch etwa gekitzelt, jetzt haben wir uns das eben aufgeteilt: er die Siege, ich die Schanzenre­korde.“Ach ja, noch etwas wird Andreas Wellinger mitnehmen auf seinem Weg zur Nordisch-WM Ende des Monats in Lahti: „das überragend­e Gefühl meiner Flüge“. Vielleicht das wertvollst­e Gepäckstüc­k.

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FOTO: ROLAND RASEMANN An beiden Wettkampft­agen auf Rekordkurs: Andreas Wellinger beim Skiflug-Weltcup in Oberstdorf.

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