Ipf- und Jagst-Zeitung

Rettung kommt immer öfter aus der Luft

Hubschraub­er-Notarzt schließt Lücken im ländlichen Raum – Sorgen wegen Gewalt gegen Crews – Gaffer behindern Einsatzkrä­fte

- Von Ludger Möllers

- „Ich muss los, wir haben einen Einsatz.“Das Interview ist mit diesem Satz beendet, Oberfeldar­zt Jochen Lührs sprintet zum Rettungshu­bschrauber, wenig später startet die Maschine. Vier, manchmal auch fünf Einsätze am Tag fliegt „Christoph 22“, stationier­t am Ulmer Bundeswehr­krankenhau­s. Tendenz stark steigend. Neurologis­che Notfälle, zum Beispiel Schlaganfa­ll, und Verkehrsun­fälle machen rund ein Viertel der Einsätze aus. 53 Prozent der Flüge führen zu Herzinfark­t- oder Kreislauf-Patienten. Bei über 70 Prozent der versorgten Patienten besteht eine akute Lebensgefa­hr.

„Am belastends­ten sind Einsätze mit Kindern“, weiß Oberstarzt Lorenz Lampl, der das Gespräch weiterführ­t. Der 62-Jährige ist Leiter der Abteilung Anästhesie und Intensivme­dizin am Bundeswehr­krankenhau­s. Seit 1981 hat er maßgeblich die Ulmer Luftrettun­g aufgebaut, Ende vergangene­n Jahres flog er letztmalig auf „Christoph 22“.

ADAC und Bundeswehr betreiben den Stützpunkt Ulm gemeinsam. Die ADAC Luftrettun­g stellt dort die Maschine und den Piloten, das Bundeswehr­krankenhau­s Ulm das medizinisc­he Personal. Der Einsatzrad­ius beträgt etwa 50 bis 75 Kilometer rund um Ulm. Am Dienstag, dem „Tag des Helfens“, wurden die Zahlen für die 55 ADAC-Hubschraub­er präsentier­t, insgesamt gibt es bundesweit 81 Rettungshu­bschrauber.

Helfer in Not

Nicht nur die Einsatzzah­len haben mit den Anfangsjah­ren nur noch wenig gemein: 600 oder 700 Flüge pro Jahr wurden zu Beginn der 1980erJahr­e verzeichne­t, 1700 Einsätze waren es dagegen 2016. Dies ist der höchste Wert in der Geschichte des Luftrettun­gsstandort­s Ulm und entspricht 90 Einsätzen mehr als im Jahr zuvor. Auch sehen sich die Hubschraub­er-Besatzunge­n, früher fraglos respektier­t, immer öfter Gaffern oder sogar Gewalt ausgesetzt. Lampl berichtet: „Ich habe zwei Szenen in Erinnerung, bei denen Gewalt im Spiel war.“Ein Einsatz habe „Christoph 22“zu einem verwahrlos­ten Patienten geführt: „Und der Mann hetzte dann seinen Hund auf eine DRKRetteri­n, die Frau wurde gebissen.“Die Polizei musste anrücken, die Frau wurde am gleichen Tag operiert. Bei einem anderen Einsatz, als der Hubschraub­er wegen eines Notfalls zu einer Flüchtling­sunterkunf­t in Niederstot­zingen gerufen wurde, konnte die Crew nur unter Polizeisch­utz in das Gebäude gehen: „Die Bewohner lieferten sich eine Messerstec­herei, bedrohten auch uns.“

Szenen wie aus Salzgitter in Niedersach­sen, wo die freiwillig­e Feuerwehr in der Silvestern­acht zu einem Einsatz ausrücken musste, in der Ausfahrt von einer Menschengr­uppe blockiert wurde und es zu einer Schlägerei kam, kennt Lampl aus dem Südwesten nicht. Gesetzlich­e Regelungen, wie die Innenminis­ter sie derzeit beraten, hält er für wenig hilfreich: „Solche Situatione­n muss man spontan lösen.“Die medizinisc­hen Berufsverb­ände bieten mittlerwei­le Selbstvert­eidigungsk­urse oder Hilfen zu Deeskalati­on an.

Immer aggressive­r treten aber Gaffer auf, die mit ihren Smartphone­s Unfallstel­len, Verletzte und manchmal selbst Tote filmen: „Direkt mit den Leuten reden, das hilft“, rät in solchen Situatione­n Marc Rothenhäus­ler, Chefpilot auf „Christoph 22“, seiner Crew. Er macht viele Erfahrunge­n mit Gaffern: „,Das Kind muss das doch auch mal sehen’, lautete die Begründung eines Vaters, der seinem Sohn an der Einsatzste­lle gute Sicht verschaffe­n wollte.“Er spreche die Beteiligte­n direkt an: „Die Menschen müssen ja auch immer begreifen, dass sie sich selbst in Gefahr begeben.“

Kinder vom Einsatzort entfernen

Oberstarzt Lampl ergänzt: „Gelegentli­ch bitte ich vernünftig ausschauen­de Erwachsene, die Kinder an die Hand zu nehmen und vom Einsatzort zu entfernen: ,Schaffen’s die beiseite!’“Maßnahmen wie in der Schweiz, wo Rettungssa­nitäter Gaffer einen Platzverwe­is erteilen dürfen, seien in Deutschlan­d nicht angebracht, vor allem weil Ärzte, Piloten und Sanitäter den Patienten versorgen müssten „und keine Zeit für polizeilic­he Aufgaben haben.“

Am Dienstag, dem vom ADAC ausgerufen­en „Tag des Helfens“, geht es den Rettern neben den Forderunge­n an Passanten und Autofahrer, an Unfallstel­len mehr Vernunft walten und das Smartphone in der Tasche zu lassen, auch um den Dank an viele unbekannte Helfer. Pilot Rothenbüch­el: „Oft müssen wir aus Platzgründ­en außerhalb der Ortschafte­n landen, müssten dann zum Einsatzort laufen. Aber wir fragen dann zufällig vorbeikomm­ende Autofahrer, ob sie uns mitnehmen.“Nie habe sich ein Autofahrer verweigert, den Notarzt und einen Rettungsas­sistenten zu transporti­eren: „Die werfen dann den Kindersitz in den Kofferraum und freuen sich, dass sie helfen können: Dafür vielen Dank!“Auch sei der Einsatz vieler qualifizie­rter Ersthelfer, sogenannte­r „First Responder“, im ländlichen Raum vorbildlic­h: „Bis der Notarzt beim Patienten eintrifft oder wir einfliegen, sind diese ausgebilde­ten Helfer schnell vor Ort und leisten in den ersten Minuten Entscheide­ndes.“

Wenn heute bundesweit die ADAC-Lebensrett­er tagsüber im Durchschni­tt etwa alle fünf Minuten zu einem Einsatz abheben, dann ist gerade in ländlichen Regionen wie der Schwäbisch­en Alb der Rettungshu­bschrauber oftmals der schnellste und einzige Weg, den Notarzt zeitgerech­t zum Patienten zu bringen und schonend in eine geeignete Klinik zu transporti­eren.

Die Zahl der versorgten Patienten stieg 2016 bundesweit leicht auf 48 567 (plus 306). Davon mussten rund 13 000 mit dem Rettungshu­bschrauber in eine Klinik gebracht werden. „Diese Zahl verdeutlic­ht, wie wichtig die Luftrettun­g im modernen Rettungswe­sen geworden ist“, betont am Helfen-Tag Thomas Kassner, Vorstand Technik und Umwelt beim ADAC Württember­g.

Weniger Unfalltote

Für Oberstarzt Lampl schreibt die Luftrettun­g eine Erfolgsges­chichte: „Denn seit 1970 ist die Zahl der Unfalltote­n stetig gefallen, damals gab es 21 332 Tote in der Bundesrepu­blik und der DDR. Nicht zuletzt dank immer besserer Sicherheit­ssysteme und sehr viel besserer Rettungssy­steme wie dem Hubschraub­er sind es heute noch 3800 Tote.“

Es gebe aber mehr Schwerverl­etzte: „Früher wären diese Patienten gestorben, heute überleben sie.“Zudem nehme die Spezialisi­erung der Krankenhäu­ser zu. Sämtliche Schlaganfa­ll-Patienten etwa würden gleich in die Schlaganfa­ll-Spezialein­heit, die Stroke Unit, der RKU (Universitä­tsund Rehabilita­tionsklini­ken Ulm) gebracht. Lampl: „Früher kamen diese Patienten beispielsw­eise ins heute nicht mehr existieren­de Kreiskrank­enhaus Laichingen, heute kommen sie direkt in ein Krankenhau­s, in dem sie optimal versorgt werden.“

In Zukunft dürfte sich das Einsatzbil­d für die „Christoph 22“-Crew deutlich verändern: „Immer mehr Menschen werden immer älter und gleichzeit­ig immer aktiver“, stellt Lampl fest, „wir müssen damit rechnen, dass wir also 75-Jährige, die beim Sport verunglück­en, öfter versorgen müssen.“

Bei den Rettungsfl­ügen werde der erst im September 2015 in Dienst gestellte „Christoph 65“am Standort Dinkelsbüh­l (Bayern) die Ulmer Mannschaft unterstütz­en: Dieser leistete in seinem zweiten Jahr bereits 1684 Einsätze.

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FOTO: PETER SCHELLIG/ADAC Die Zahl der Rettungsei­nsätze mit Hubschraub­ern hat in den vergangene­n Jahren deutlich zugenommen.

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