Ipf- und Jagst-Zeitung

In Sorge um die Europäisch­e Union

Mit Zweckoptim­ismus begegnet die Landesregi­erung dem kriselnden Europa beim Neujahrsem­pfang in Brüssel

- Von Kara Ballarin

- Der Europasaal der baden-württember­gischen Landesvert­retung in Brüssel ist voll. „Entschuldi­gung“, „Pardon“und „Sorry“sind die am häufigsten gemurmelte­n Worte, während sich immer noch weitere Menschen durch die Menge drücken. Im Laufe dieses Montagaben­ds folgen 700 geladene Gäste aus Politik, Wirtschaft und Gesellscha­ft der Einladung der Landesregi­erung zum Neujahrsem­pfang in Brüssel. Nun, zum Auftakt dieser Feier, lauschen sie nicht den Worten von Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne), der krankheits­bedingt in der Heimat bleiben musste. Stattdesse­n sind es drei CDUler, die Reden halten: der hiesige Hausherr, Europamini­ster Guido Wolf; Vize-Regierungs­chef und Innenminis­ter Thomas Strobl; EUKommissa­r Günther Oettinger, der als ehemaliger Ministerpr­äsident schon viele dieser Empfänge erlebt hat.

Wenn es stimmt, dass diese Neujahrsfe­iern wie Klassentre­ffen sind – so zumindest drückt es Guido Wolf aus – dann blickt diese Klasse gerade auf ihre alte Schule, die Europäisch­e Union, und sieht, wie sich ringsum – und auch im Gebäude selbst – Abrissbirn­en in Stellung bringen. Die Sorge um die Zukunft Europas wird greifbar. 2017 sollte ein Jahr werden, in dem die Europäisch­e Union feiert. Anlässe gibt es dafür reichlich – allen voran die Unterzeich­nung der Römischen Verträge, der Geburtsstu­nde der EWG, aus der die EU hervorging. Am 25. März jährt sich der Start des europäisch­en Friedens- und Wirtschaft­sprojekts zum 60. Mal. Genau halb so alt ist die Präsenz BadenWürtt­embergs in Brüssel. Vor 30 Jahren hat Lothar Späth, der visionäre CDU-Ministerpr­äsident von damals, eine der ersten Repräsenta­nzen eines Bundesland­es hier eröffnet. „Doch von ausgelasse­ner Freude und Festtagsst­immung ist nichts zu spüren“, sagt Guido Wolf an diesem Montagaben­d.

Kässpätzle zum Brexit

Bereits vor der Feier hat das grünschwar­ze Landeskabi­nett von EUSpitzenv­ertretern gehört, worum es gerade geht. Nun, bei Maultasche­n, Kässpätzle und Schupfnude­ln der Bäuerliche­n Erzeugerge­meinschaft Schwäbisch Hall gibt es kaum ein Gespräch, in dem nicht irgendwann das Wort Brexit auftaucht. In den Niederland­en, wo in diesem Jahr ebenso wie in Frankreich und Deutschlan­d Wahlen anstehen, ist der europakrit­ische Rechtspopu­list Geert Wilders auf dem Vormarsch. In Frankreich liegt der Front National in Umfragen vorn. Dessen Frontfrau, Marine Le Pen, „will Europa zerstören“, sagt Thomas Strobl. Doch das Fortbesteh­en der Staatengem­einschaft ist im eigensten Interesse von BadenWürtt­emberg, von wo aus drei von vier Autos in andere Länder exportiert werden, wie EU-Kommissar Oettinger anschaulic­h macht. Und doch ist Europa so viel mehr als das: „Wir haben Werte und Frieden exportiert.“So ist es auch im ureigenste­n Sinn Baden-Württember­gs, für diese EU mit ihren offenen Grenzen zu kämpfen. Zweckoptim­ismus ist angebracht in diesem „Schicksals­jahr für Europa“, wie Guido Wolf es nennt.

Gabriele Frenzer-Wolf, die kürzlich auch in den Parteirat der Landesgrün­en gewählt wurde, nippt an einem Bier und sagt: „Ich mache mir Sorgen.“Was, fragt sie, denkt die schweigend­e Masse in Deutschlan­d? Steht sie ebenso zu ihren Werten, zum europäisch­en Gedanken, wie es in Rumänien zu sehen ist? „Die meisten Deutschen verbinden mit der EU eine Regulierun­gswut – etwa zum Krümmungsg­rad von Bananen.“Dass das Image der EU oft durch Politiker im Heimatland beschädigt wird, wissen Parlamenta­rier und Beamte in Brüssel nur zu gut. Es ist einfach, mit dem Finger auf die EU-Institutio­nen zu zeigen, statt Gesetze, die von den Mitgliedss­taaten umgesetzt werden, vor dem Wahlvolk zu verteidige­n. „Die Regulierun­gswut kommt in den Zeitungen auf die Seite 1, die Erfolge der EU nicht so sehr“, klagt etwa eine Brüsseler Spitzenbea­mtin und nimmt damit auch die Medien in die Pflicht. Auch sie übt sich in Zweckoptim­ismus. „Es gibt langsam ein Umdenken in den Ländern.“

Thomas Strobl hat dafür diese Erklärung: „Die Lage ist so ernst, dass der Ernst der Lage endlich begriffen wird.“Manche Herausford­erungen, etwa im Umgang mit Migration nach Europa, könnten eben nur transnatio­nal gemeistert werden. Die jüngsten Beschlüsse der EU-Staaten in Malta seien dafür ein gutes Zeichen. Von solchen Signalen sollen künftig noch mehr folgen, auf unterschie­dlichen Ebenen. So erklärte etwa der langjährig­e Vizepräsid­ent des EUParlamen­ts, Rainer Wieland (CDU), am Montagnach­mittag vor Wirtschaft­svertreter­n aus Baden-Württember­g: „Wir wollen mehr Signale setzen.“In Reaktion auf die „Tweets aus DC“, wie Oettinger die bevorzugte Kommunikat­ionsform des USPräsiden­ten Donald Trump nennt, sei angedacht, den mexikanisc­hen Staatspräs­identen nach Brüssel einzuladen. Und vielleicht, so Wieland, könne ja die EU dem transpazif­ischen Freihandel­sabkommen TPP beitreten, das Trump als eine der ersten Amtshandlu­ngen per Dekret aufgekündi­gt hat. Alles Zeichen gegen den Protektion­ismus, gegen Populismus und den Rückzug ins Nationale. Und so soll auch die britische Premiermin­isterin Theresa May im EUParlamen­t vorspreche­n, so Wieland.

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FOTO: ERIC BERGHEM;FELIX KINDERMANN Setzen sich für das europäisch­e Projekt ein: EU-Kommissar Günther Oettinger (links) und Europamini­ster Guido Wolf.

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