Nimm und lies!
Seit 100 Jahren bewahrt die Diözesanbibliothek in Rottenburg das Erbe einer christlich geprägten Region
- 100 Jahre Diözesanbibliothek in Rottenburg gilt es per Festakt zu feiern, also 100 Jahre Buchkultur im Südwesten. Aber zunächst einmal schweift der Blick vom Neckartal ins Silicon Valley. Klaus Koziol setzt zum Auftakt einen Kontrapunkt: „Disruption“laute der Slogan der IT-Welt, betont er, also Abbruch, Ende der Kontinuität, Vergessen der Vergangenheit, Umschalten auf neues Denken. Ein Trugschluss, meint der Leiter der Hauptabteilung Medien und Öffentlichkeitsarbeit der Diözese, denn der Mensch sei nun mal auf Kontinuität angewiesen, müsse an Überliefertem anknüpfen können. Fazit: „Gerade weil die Digitalisierung derzeit so übermächtig ist, brauchen wir Bibliotheken notwendiger denn je.“
Damit ist die Daseinsberechtigung der Jubilarin schon mal glänzend bestätigt. Aber dieser Bücherfundus, der sich in den letzten 200 Jahren anhäufte, heute auf 570 000 Bände angewachsen ist und seit 1916 zentral als Diözesanbibliothek verwaltet wird, spricht ohnehin für sich. Mit einer Initiative Ignaz von Wessenbergs begann es kurz nach 1800. Um Bildung und Weiterbildung der Geistlichen zu sichern, verlangte der aufgeklärte, Reformen aufgeschlossene und deswegen nicht unumstrittene Generalvikar des Bistums Konstanz die Einrichtung von Bibliotheken in den 28 Landkapiteln, vergleichbar mit heutigen Dekanaten. Und der König von Württemberg – evangelisch, wohlgemerkt – kam diesem Wunsch 1810 auch nach. Zusammengetragen wurde theologische, philosophische, pädagogische, naturwissenschaftliche und schöngeistige Literatur, für den Klerus, aber indirekt auch für das Volk. Die Landkapitel wurden verpflichtet, eine Lesegesellschaft und eine Bibliothek zu unterhalten, sie im Bestand zu bewahren und – ganz wichtig – auch stets zu aktualisieren.
273 Bände sind eingelagert
Daran hat sich im Kern eigentlich nichts geändert. Nachdem um 1900 der Ruf nach einem Gesamtkatalog immer stärker geworden war, gründete Bischof Paul Wilhelm von Keppler 1916 eine Diözesanbibliothek. Allerdings gibt es heute noch formal 22 Landkapitelbibliotheken, deren Bestände in Depots, etwa in Obermarchtal oder Weingarten, zusammengefasst sind. Seit über 20 Jahren gehören auch die Bibliotheken des Priesterseminars, des Bischöflichen Ordinariats und des Tübinger Wilhelmsstifts zum Fundus der Diözesanbibliothek. Insgesamt 273 000 Bände lagern heute in der Bischofsstadt.
Die Diözesanbibliothek unter der Leitung von Georg Ott-Stelzner ist seit 1996 im selben Neubau wie das Diözesanmuseum untergebracht. Es gibt einen Lesesaal mit zwölf Plätzen und EDV-Ausstattung. Allein 166 000 Titel der Bibliothek sind elektronisch erfasst. Der Bücherfundus ist dem Deutschen Leihverkehr angeschlossen, und ausgeliehen wird bis weit über die Bischofsstadt hinaus. Pro Jahr verlassen rund 8500 Titel das Haus. Und da die Bibliothek ihr Angebot an Büchern sowie 2500 Zeitschriften stets aktuell halten will, kommt immer Neues hinzu – ein erheblicher Arbeitsaufwand, wie Ott-Stelzner beim Festakt mit Zahlen untermauert. Seit dem Jahr 2000 waren 66 größere Buchnachlässe zu bearbeiten, und das bedeutete die Sichtung von rund 60 000 Bänden.
Aber dieses bibliothekarische Wirken hat natürlich auch eine spirituelle Note. Auf sie hebt Diözesanbischof Gebhard Fürst beim Festakt ab – und bemüht dazu große Geister der jüdisch-christlichen Tradition. „Nimm und lies!“war das Erweckungserlebnis für den heiligen Augustinus, und dem Propheten Ezechiel befahl Gott sogar, er solle eine Buchrolle wortwörtlich „verschlingen“. Will heißen: Das Buch ist seit jeher zur religiösen Sinnfindung unerlässlich. Aber auch für die Weitergabe des Glaubens, bis heute. Kirchliche Bibliotheken hätten nicht nur konservatorisch zu denken, sondern sollten stark auf Gegenwart und Zukunft ausgerichtet sein. Ihr wichtiger Auftrag ist laut Fürst die Verbindung von Kirche und Welt.
„Beifang“ergänzt die Ausstellung
Wie breit eine solche Bibliothek angelegt ist, macht noch bis 22. Februar eine kleine Ausstellung im Ordinariat deutlich. Dabei reichen die Exponate von kostbaren Handschriften bis zu bunten Andachtsbildchen. Da finden sich Traktate, Katechismen, Gesangbücher und Noten ebenso wie kirchliche Periodika, Amtsblätter, Zeitschriften oder auch Konterfeis aller Bischöfe seit Gründung des Bistums 1821. Und in einer Vitrine hat Ott-Stelzner all das arrangiert, was sich so findet zwischen den Büchern in den Nachlasskisten geistlicher Herren: vom Madonnenbild über Rosenkränze und Kerzenleuchter bis zum Hosenträger. „Beifang“nennt er das – ein hübscher Einfall.