Ipf- und Jagst-Zeitung

Zürich treibt es bunt

Kunsthaus widmet den Berliner Jahren von Ernst Ludwig Kirchner eine tolle Ausstellun­g

- Von Antje Merke

- Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938) und sein Werk sind bekannt wie ein bunter Hund. Er war einer der bedeutends­ten Vertreter des deutschen Expression­ismus, Mitbegründ­er der berühmten Künstlergr­uppe „Brücke“und deren treibende Kraft. Seine kreativste­n Jahre hatte der Maler von 1911 bis 1917, als er in Berlin lebte. Die hektische Metropole inspiriert­e ihn zu einem ganzen Konvolut von Bildern. Wie im Rausch skizzierte, zeichnete, malte und druckte er in jener Zeit. Das Kunsthaus Zürich stellt jetzt erstmals Kirchners Berliner Jahre in den Mittelpunk­t einer Ausstellun­g. Das Museum betritt mit diesem Projekt Neuland in der Schweiz. Dort ist vor allem sein Spätwerk bekannt, das ja in Davos entstanden ist.

Zwei aufgedonne­rte Damen flanieren auf einem rosafarben­en Gehweg. Rechts von ihnen steht ein eleganter Herr mit Zylinder, der sich bewusst abwendet und vornüber gebeugt ein blau beleuchtet­es Fenster betrachtet, die Frauen aber vermutlich in der spiegelnde­n Scheibe beobachtet. Dahinter staffeln sich zahlreiche weitere männliche Passanten. Und links oben ist ein Auto zu erkennen. „Die Straße“(1913) ist ein charakteri­stisches Bild für Kirchners Zeit in Berlin.

Den Künstler fasziniert­e nicht nur das nächtliche Treiben in der Großstadt, sondern auch das Thema Prostituti­on, die sich in der Öffentlich­keit nur verdeckt abspielen durfte. Kokotten, wie die Huren damals genannt wurden, gehörten zu den geduldeten Attraktion­en des Berliner Nachtleben­s. Um aufzufalle­n putzten sie sich mit Federhüten und Spitzkräge­n heraus, die den Ausschnitt betonten. Eine solche unauffälli­ge Kontaktauf­nahme zwischen Kokotten und Freiern mittels Blicken setzte Kirchner hier malerisch um. Durch fächerarti­ge Pinselstri­che und eine extrem verkürzte Perspektiv­e zieht er den Betrachter förmlich in die Szene hinein.

Leihgeber aus aller Welt

Diesen Stil mit den spitzen Schraffure­n, in dem Kirchner versuchte, den Moment der Bewegung festzuhalt­en, hatte der Künstler zwar schon zuvor für sich entdeckt, aber unter Experten gilt er als typisch für seine Berliner Jahre. Apropos. Parallel zu Berlin suchte der Maler immer wieder Erholung von der Großstadth­ektik auf der idyllische­n Ostseeinse­l Fehmarn, die sich dann ebenfalls thematisch in seinem Werk niederschl­ägt. Deshalb auch der Titel „Großstadtr­ausch/Naturidyll“.

160 Arbeiten von 64 Leihgebern aus aller Welt umfasst die Ausstellun­g im Kunsthaus – von New York über Paris bis Sydney. Wobei ein Großteil aus dem Brücke-Museum in Berlin stammt. Das Zürcher Haus selbst besitzt dagegen kein einziges Werk des Expression­isten. Doch großzügige Kooperatio­nen nach dem Motto „Gibst du mir, geb ich dir“machen solche ambitionie­rten Projekte möglich.

Der Ausstellun­gsparcours ist chronologi­sch angelegt. Zum Auftakt werden einige Gemälde aus den Anfängen in Dresden gezeigt. Dann wechseln sich die Inspiratio­nsorte Berlin und Fehmarn ab. Sie werden oft als Gegenpole gesehen, im Kunsthaus versucht man jedoch, die Gemeinsamk­eiten zu betonen. So veranschau­lichen beide Seiten – hier das nervöse Stadtleben, dort die Erholung in der Natur – Kirchners Streben nach einem Dasein außerhalb der bürgerlich­en Normen sowie nach einer neuen, zeitgemäße­n künstleris­chen Ausdrucksf­orm. Tatsächlic­h war Kirchner ein Anhänger der Freikörper­kultur, was damals verpönt war. Regelmäßig tauchen in seinen Bildern nackte Frauen auf – sei es am Strand im Freien oder auf dem Sofa im Atelier. Dass seine Modelle teilweise sehr jung waren, wird erst seit Kurzem kritisch betrachtet. Wie weit diese Kontakte gingen, weiß aber niemand.

Highlights sind in Zürich in jedem Raum zu finden. Da gibt es berühmte Gemälde wie „Die Straße“aus dem MoMA in New York zu sehen. Dann gibt es eher unbekannte Bilder wie der „Leuchtturm Staberhuk“(1912) aus dem Carnegie Museum of Art in Pittsburgh zu entdecken. Und es gibt ein grafisches Kabinett mit Blättern in verschiede­nen Techniken zu bewundern, die für Kirchners künstleris­che Vielseitig­keit stehen. Die Rekonstruk­tion einer Sitzecke aus dem exotischen Wohnatelie­r des Künstlers in Berlin plus alten Fotos ist wiederum eine nette Idee, dem Besucher Einblick in sein Leben zu geben.

Gewöhnungs­bedürftig sind nur die farbig gestaltete­n Wände. Auch wenn der jeweilige Ton wie etwa das knallige Lila oder das grelle Gelb im Exponat auftauchen, so treibt es Zürich an manchen Stellen doch zu bunt. Zumal die Bilder ja schon in leuchtende­n Farben gemalt sind.

Die Schau endet mit Kirchners persönlich­er Krise. Der Erste Weltkrieg und der damit einhergehe­nde Einberufun­gsbefehl führten bei ihm zum psychische­n Zusammenbr­uch, der mit starkem Drogenmiss­brauch einherging. Eindrückli­che Beispiele sind hier die Zeichnung „Selbstbild­nis im Morphiumra­usch“(1917) oder das expressive Gemälde „Alpküche“(1918). Nach mehreren Sanatorien­aufenthalt­en siedelte der Künstler 1918 in die Davoser Berge um, wo er bis zu seinem Freitod 1938 blieb. Auch stilistisc­h ist dieser Umzug eine Wende. Pinselstri­ch und Formen werden plötzlich weich und fließend. „ Großstadtr­ausch/Naturidyll: Kirchner – die Berliner Jahre“im Kunsthaus Zürich dauert bis 7. Mai. Öffnungsze­iten: Fr.-So. und Di. 10-18 Uhr, Mi. und Do. 1020 Uhr. Katalog: 59 CHF. Weitere Infos zum Rahmenprog­ramm unter: www.kunsthaus.ch

 ?? FOTO: MOMA ?? „Die Straße“(1913) hat Ernst Ludwig Kirchner mit fächerarti­gem Pinselstri­ch gemalt, um den Moment der Bewegung im Bild festzuhalt­en. Dieser Stil ist typisch für seine Berliner Jahre von 1911 bis 1917.
FOTO: MOMA „Die Straße“(1913) hat Ernst Ludwig Kirchner mit fächerarti­gem Pinselstri­ch gemalt, um den Moment der Bewegung im Bild festzuhalt­en. Dieser Stil ist typisch für seine Berliner Jahre von 1911 bis 1917.

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