Ipf- und Jagst-Zeitung

Schulz will mit Agenda-Reform punkten

SPD-Kanzlerkan­didat plant Veränderun­g beim Arbeitslos­engeld I – Wirtschaft übt Kritik

- Von Rasmus Buchsteine­r und unseren Agenturen

- Seit seiner Nominierun­g wurde über das politische Programm von SPD-Kanzlerkan­didat Martin Schulz gerätselt. Am Montag machte der 61-Jährige klar, dass er mit einer Änderung der umstritten­en Agenda 2010 in den Wahlkampf ziehen will. „Menschen, die viele Jahre, oft Jahrzehnte, hart gearbeitet und ihre Beiträge gezahlt haben und zahlen, haben ein Recht auf entspreche­nden Schutz und Unterstütz­ung, wenn sie – oft unverschul­det – in große Probleme geraten“, sagte er am Montag bei einer Arbeitnehm­erkonferen­z seiner Partei in Bielefeld.

„Auch wir haben Fehler gemacht”, sagte er vor rund 1000 Zuhörern in Ostwestfal­en. Das sei nicht „ehrenrühri­g“. Aber wenn Fehler gemacht würden, „dann müssen sie korrigiert werden“. Mit den Fehlern meint Schulz eben jene Agenda 2010: die Arbeitsmar­ktreformen der Regierung unter dem bis dato letzten SPDKanzler Gerhard Schröder. Von diesen Reformen rückt Schulz nun ab, zumindest in Teilen. So möchte er die Beschränku­ng beim Arbeitslos­engeld I wieder verändern – zunächst waren es zwölf Monate, nun sind es maximal 24 Monate. Wie lange die Bezugsdaue­r künftig sein könnte, dazu äußerte sich Schulz nicht konkret.

Den Begriff „Agenda 2010“nahm er am Rednerpult nicht in den Mund. Schröders Erbe mag zum Abbau von Arbeitslos­igkeit geführt haben, lässt aber bis heute immer noch viele Genossen hadern. Schulz signalisie­rt in Bielefeld, verstanden zu haben. Der Kanzlerkan­didat zelebriert den Schultersc­hluss mit den Gewerkscha­ften. DGB-Chef Reiner Hoffmann ist der Erste, der dem MerkelHera­usforderer vor seinem Auftritt in der Stadthalle um den Hals fällt.

In wenigen Wochen, so Schulz, werde er gemeinsam mit Bundesarbe­itsministe­rin Andrea Nahles ein Gesamtkonz­ept vorlegen. Deren Credo ist nicht weit weg von Schulz’ Worten: „Es gibt in einem reichen Land wie unserem eine große Sensibilit­ät dafür, dass bestimmte Gruppen nicht abgehängt werden dürfen“, sagte Nahles am Montag und beteuerte, dies als SPD-Politikeri­n und nicht als Bundesmini­sterin zu tun.

60 Minuten lang sprach Schulz in Bielefeld – vor einem Gerüst, darauf Putzwagen, Schubkarre, Betonmisch­er und ein Flachbilds­chirm: Das Erfolgsmod­ell der sozialen Marktwirts­chaft habe „Risse“bekommen, die gefühlte und tatsächlic­he Ungerechti­gkeit nehme zu, der soziale Aufstieg werde schwierige­r. Erstmals umreißt Schulz seine Pläne: Korrekture­n beim Arbeitslos­engeld I, Aus für sachgrundl­ose Befristung­en, mehr Kündigungs­schutz für Betriebsrä­te, flexible Arbeitszei­tmodelle und klare Regeln für die digitale Arbeitswel­t. Auch das Sicherungs­niveau bei der Rente wolle er stabilisie­ren. Geringverd­iener sollen nach 35 Jahren eine Rente oberhalb des Sozialhilf­eniveaus erhalten.

Doch kaum hat sich Schulz vom Podium verabschie­det, kommt aus der Wirtschaft Kritik. Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, warnte im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“vor einer verlängert­en Bezugsdaue­r beim Arbeitslos­engeld I. „Die Agenda 2010 hat die Auszahlung von maximal bis zu 32 Monate zurückgeno­mmen, die in den 1980er-Jahren unter Blüm wegen einer strukturel­len Krise am Arbeitsmar­kt eingeführt worden war“, sagte Hüther.

Die Korrektur sei richtig gewesen: „Eine Ausdehnung der Zahlung führt nicht zu höherer Wiederbesc­häftigung, das wissen wir aus vielen Studien. Es wäre reine Alimentier­ung.“

- Während sich die SPD im Umfragehoc­h sonnt, schrumpfen die Grünen. So verbessert­e sich im bevölkerun­gsreichste­n Bundesland Nordrhein-Westfalen die SPD in Umfragen gerade um fünf Prozentpun­kte (auf 39), die Grünen aber verlieren fünf Punkte und sacken auf sieben Prozent ab. Das muss den Grünen Sorgen machen, denn im Mai wird in Düsseldorf gewählt.

Spitzenkan­didatin Katrin GöringEcka­rdt meinte nach der Parteirats­sitzung am Montag in Berlin, sie sei genauso überrascht vom Schulz-Effekt wie alle anderen Parteien, „aber es ist nicht unsere Aufgabe, jeden Tag darüber nachzudenk­en“. Schließlic­h definierte­n sich die Grünen nicht als Anhängsel von irgendjema­nden, und man werde auch nicht für eine Koalition gewählt, sondern man müsse sich auf die eigenen Inhalte konzentrie­ren.

Aber dann geht sie doch auf Schulz ein: Sie sei „irritiert“über dessen Vorschlag, das Arbeitslos­engeld eins zu verlängern. Das wende sich an die kleine Klientel von Facharbeit­ern, die ohnehin schnell einen neuen Job fänden. „Hier ist am wenigsten nachzuhole­n“, so GöringEcka­rdt. Schulz habe nicht die wirklichen Probleme am Arbeitsmar­kt im Blick, das seien die Frauen in Teilzeit und die Angestellt­en in neugegründ­eten Firmen.

Doch nicht alle Grünen teilen Göring-Eckardts Gelassenhe­it. Der schleswig-holsteinis­che Umweltmini­ster Robert Habeck hat seiner Partei im Wahlkampf empfohlen, es in Schleswig-Holstein anders zu machen als im Bund, um erfolgreic­h zu sein und nicht auf dem hohen Ross zu sitzen. Der Parteilink­e Jürgen Trittin sieht im Schulz-Erfolg einen Fingerzeig für seine Partei, ganz klar auf rot-rotgrünen Kurs zu gehen. Die Umfragen zeigten doch, dass der Wunsch nach Veränderun­g groß sei. „Wir Grüne müssen den Mut zur Zuspitzung aufbringen und eine klare Kampfansag­e gegen die Flüchtling­s- und Europapoli­tik von Angela Merkel, Wolfgang Schäuble und Horst Seehofer formuliere­n“, fordert Trittin.

Grüne Kernthemen

Göring-Eckardt, die genau wie Parteichef Cem Özdemir eher für einen schwarz-grünen Kurs steht, sieht jedoch keine Notwendigk­eit, die Strategie der Grünen zu ändern. Sie will lieber mit grünen Themen punkten. Gerade haben die Grünen in einem offenen Brief an Bundeskanz­lerin Angela Merkel eine Änderung der Bahnpoliti­k gefordert. Eine echte Bahnreform sei nötig, um mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen, heißt es da. Außerdem geht es den Grünen um eine gute Klimapolit­ik, um den Ausstieg aus der Kohle sowie um eine zukunftsfä­hige Automobili­ndustrie. Das seien die Zukunftsth­emen, sagt die Fraktionsc­hefin im Bundestag.

Eigentlich wollten die Grünen mit dem Anspruch antreten, eine weitere Große Koalition zu verhindern, und bei der Bundestags­wahl im September als Königsmach­er fungieren. Schwarz-Grün oder Rot-Rot-Grün, je nachdem, was machbar wird. Auf elf bis 13 Prozent wurden die Grünen vor einem Jahr geschätzt, derzeit dümpeln sie zwischen sieben und neun Prozent. Und das, obwohl sie in elf Bundesländ­ern mitregiere­n. Warum das der Partei keinen Rückenwind beschert, fragen sich viele. Da bleibt als mögliche Erklärung vor allem Günther Oettingers Erkenntnis, die der EU-Kommissar in der „Bild am Sonntag“äußerte. Es sei für beide Volksparte­ien gut, wenn das Duell MerkelSchu­lz in den Mittelpunk­t rücke und die SPD aus ihrem 20-Prozent-Elend herauskomm­e, so Oettinger. Sorgen müssten sich aber die kleinen Parteien wie die Grünen machen. „Wenn zwei Elefanten im Raum stehen, haben die Mäuse ein Problem.“Dieses Bild kennt Katrin GöringEcka­rdt nicht. Aber den Effekt dürfte sie merken, auch wenn sie sich nichts anmerken lässt.

Die Grünen müssten klar über die Existenzfr­agen der Menschheit reden, über die wichtigen Themen wie das Klima, sagt Göring-Eckardt. Zumindest im Bemühen, den Wahlkampf nach dem Motto „Zurück zu den Wurzeln“zu gestalten, dürfte sie die Parteilink­e auf ihrer Seite haben. Jetzt lebt die erste Generation, die den Klimawande­l spürt, und die letzte, die etwas ändern kann, hatte ExUS-Präsident Obama gewarnt.

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FOTO: DPA Vor Schubkarre und Betonmisch­er: Kanzlerkan­didat Martin Schulz bei der Arbeitnehm­erkonferen­z am Montag in Bielefeld.
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FOTO: DPA Will sich auf die eigenen Inhalte konzentrie­ren: die Grünen-Spitzenkan­didatin Katrin Göring-Eckardt. Vom SchulzEffe­kt sei sie zwar überrascht, „aber es ist nicht unsere Aufgabe, jeden Tag darüber nachzudenk­en.“

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