Im Bad der Emotionen
Zum Dahinschmelzen: „Lion“erzählt die wahre Geschichte eines Adoptivkindes
Heute ist Google Earth ein Standardprogramm von vielen. Darüber vergisst man schnell, wie spektakulär es beim Erscheinen vor rund zehn Jahren war, die gesamte Welt vom heimischen Computer aus erforschen zu können. Viele Geschichten sind seitdem mit der Software verbunden. Die von Saroo Brierley ist aber sicher eine der berührendsten, ermöglichte sie ihm doch die Suche nach seinem Herkunftsort und seiner Familie.
Brierley hat ein Buch darüber geschrieben und die Verfilmung ist mit sechs Nominierungen einer der Favoriten für die Oscar-Verleihung am kommenden Sonntag. Vollkommen zu Recht, denn dem Australier Garth Davis gelingt es mit „Lion“, den Taschentücher-Konsum im Kinosaal rapide ansteigen zu lassen, ohne allzu manipulativ auf Gefühligkeit zu setzen. Stattdessen verlässt sich der Regie-Debütant ganz auf die Kraft der außergewöhnlichen Geschichte.
Diese inszeniert er weitgehend chronologisch, wodurch sich der Film in zwei Hälften aufteilt. Vor allem die erste ist gelungen und legt die Grundlage für die emotionale Wirkung des zweiten Teils. Der fünfjährige Saroo (Sunny Pawar) wächst mit seinen Geschwistern und der alleinerziehenden Mutter (Priyanka Bose) in der indischen Stadt Khandwa auf. Die Familie lebt in Armut und so zieht Saroo mit seinem älteren Bruder Guddu (Abhishek Bharate) regelmäßig los, um Essbares zu finden oder Kohle von einem Zugwaggon zu klauen.
Als die beiden eines Nachts losziehen, schläft Saroo in einem leeren Zug ein – und der nimmt ohne Passagiere und ohne Halt Fahrt ins 1600 Kilometer entfernte Kalkutta auf. Dort angekommen, kann der kleine Junge kaum kommunizieren. Er spricht kein Bengali, die meisten verstehen seinen Hindi-Dialekt nicht. Zudem spricht er den Namen seines Heimatortes falsch aus. Schließlich landet er in einem Waisenhaus und wird von einer australischen Familie adoptiert.
Diese erste Stunde kommt ohne viele Dialoge aus. Den Machern des Films diente offenkundig der weitgehend wortlose erste Teil des Animations-Klassikers „Wall-E“als Inspiration. Getragen wird sie zunächst von der natürlich wirkenden Dynamik zwischen den beiden Brüdern, und dann von der großartigen Leistung des Filmneulings Sunny Pawar, dessen Gesicht wahrlich Bände spricht.
Da fällt es dem zweiten Teil trotz prominenter Besetzung schwer mitzuhalten. Aus Saroo ist ein ernsthafter junger Mann geworden, der von „Slumdog Millionär“-Star Dev Patel gespielt wird. Seine Eltern (Nicole Kidman mit denkwürdiger 80er-Jahre-Perücke und David Wenham) haben ihn und einen Adoptivbruder liebevoll aufgezogen. Nun zieht er vom tasmanischen Hobart nach Melbourne, um Hotelmanagement zu studieren. An die Vergangenheit denkt er kaum, doch als ihn seine neue Freundin Lucy ( Rooney Mara) zu einem Essen bei indischstämmigen Bekannten mitnimmt, blitzen Bilder seiner lange verdrängten Vergangenheit wieder auf. An dieser Stelle kommt Google Earth ins Spiel.
Nach der farbenfrohen Bilderflut des ersten Teils und der an Charles Dickens erinnernden Armut legt der zweite Teil ein behutsameres Tempo vor. Doch gerade die MittelklasseWelt, in der Saroo jetzt lebt, bietet einen denkbaren Kontrast zu seinen Wurzeln und verstärkt sein Verlangen, herauszufinden, wo er herkommt. Mit Nicole Kidman, selber Mutter zweier Adoptivkinder, gelingt Patel dann auch eine der eindringlichsten Szenen des Films, noch bevor es für ihn zurück nach Indien geht. Wer da noch nicht zu den Taschentüchern greift, wird es spätestens beim berührenden Finale und den Bildern der realen Vorbilder im Abspann tun.