Ipf- und Jagst-Zeitung

Im Bad der Emotionen

Zum Dahinschme­lzen: „Lion“erzählt die wahre Geschichte eines Adoptivkin­des

- Von Stefan Rother

Heute ist Google Earth ein Standardpr­ogramm von vielen. Darüber vergisst man schnell, wie spektakulä­r es beim Erscheinen vor rund zehn Jahren war, die gesamte Welt vom heimischen Computer aus erforschen zu können. Viele Geschichte­n sind seitdem mit der Software verbunden. Die von Saroo Brierley ist aber sicher eine der berührends­ten, ermöglicht­e sie ihm doch die Suche nach seinem Herkunftso­rt und seiner Familie.

Brierley hat ein Buch darüber geschriebe­n und die Verfilmung ist mit sechs Nominierun­gen einer der Favoriten für die Oscar-Verleihung am kommenden Sonntag. Vollkommen zu Recht, denn dem Australier Garth Davis gelingt es mit „Lion“, den Taschentüc­her-Konsum im Kinosaal rapide ansteigen zu lassen, ohne allzu manipulati­v auf Gefühligke­it zu setzen. Stattdesse­n verlässt sich der Regie-Debütant ganz auf die Kraft der außergewöh­nlichen Geschichte.

Diese inszeniert er weitgehend chronologi­sch, wodurch sich der Film in zwei Hälften aufteilt. Vor allem die erste ist gelungen und legt die Grundlage für die emotionale Wirkung des zweiten Teils. Der fünfjährig­e Saroo (Sunny Pawar) wächst mit seinen Geschwiste­rn und der alleinerzi­ehenden Mutter (Priyanka Bose) in der indischen Stadt Khandwa auf. Die Familie lebt in Armut und so zieht Saroo mit seinem älteren Bruder Guddu (Abhishek Bharate) regelmäßig los, um Essbares zu finden oder Kohle von einem Zugwaggon zu klauen.

Als die beiden eines Nachts losziehen, schläft Saroo in einem leeren Zug ein – und der nimmt ohne Passagiere und ohne Halt Fahrt ins 1600 Kilometer entfernte Kalkutta auf. Dort angekommen, kann der kleine Junge kaum kommunizie­ren. Er spricht kein Bengali, die meisten verstehen seinen Hindi-Dialekt nicht. Zudem spricht er den Namen seines Heimatorte­s falsch aus. Schließlic­h landet er in einem Waisenhaus und wird von einer australisc­hen Familie adoptiert.

Diese erste Stunde kommt ohne viele Dialoge aus. Den Machern des Films diente offenkundi­g der weitgehend wortlose erste Teil des Animations-Klassikers „Wall-E“als Inspiratio­n. Getragen wird sie zunächst von der natürlich wirkenden Dynamik zwischen den beiden Brüdern, und dann von der großartige­n Leistung des Filmneulin­gs Sunny Pawar, dessen Gesicht wahrlich Bände spricht.

Da fällt es dem zweiten Teil trotz prominente­r Besetzung schwer mitzuhalte­n. Aus Saroo ist ein ernsthafte­r junger Mann geworden, der von „Slumdog Millionär“-Star Dev Patel gespielt wird. Seine Eltern (Nicole Kidman mit denkwürdig­er 80er-Jahre-Perücke und David Wenham) haben ihn und einen Adoptivbru­der liebevoll aufgezogen. Nun zieht er vom tasmanisch­en Hobart nach Melbourne, um Hotelmanag­ement zu studieren. An die Vergangenh­eit denkt er kaum, doch als ihn seine neue Freundin Lucy ( Rooney Mara) zu einem Essen bei indischstä­mmigen Bekannten mitnimmt, blitzen Bilder seiner lange verdrängte­n Vergangenh­eit wieder auf. An dieser Stelle kommt Google Earth ins Spiel.

Nach der farbenfroh­en Bilderflut des ersten Teils und der an Charles Dickens erinnernde­n Armut legt der zweite Teil ein behutsamer­es Tempo vor. Doch gerade die Mittelklas­seWelt, in der Saroo jetzt lebt, bietet einen denkbaren Kontrast zu seinen Wurzeln und verstärkt sein Verlangen, herauszufi­nden, wo er herkommt. Mit Nicole Kidman, selber Mutter zweier Adoptivkin­der, gelingt Patel dann auch eine der eindringli­chsten Szenen des Films, noch bevor es für ihn zurück nach Indien geht. Wer da noch nicht zu den Taschentüc­hern greift, wird es spätestens beim berührende­n Finale und den Bildern der realen Vorbilder im Abspann tun.

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FOTO: UNIVERSUM FILM Saroo (Dev Patel) hat seine leibliche Mutter Kamla (Priyanka Bose, beide Mitte) nach langer Suche wiedergefu­nden.

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