Ipf- und Jagst-Zeitung

„Wir kämpfen um Platz eins“

Im Interview mit der „Schwäbisch­en Zeitung“pocht Kanzlerkan­didat Martin Schulz auf den Führungsan­spruch der Sozialdemo­kraten

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- Vor Kurzem noch sahen die Demoskopen die SPD am Boden. Seit Martin Schulz zum Kanzlerkan­didaten ausgerufen wurde, schnellen die Werte der Sozialdemo­kraten nach oben. Im Interview mit Rasmus Buchsteine­r und Tobias Schmidt spricht Schulz über den überrasche­nden Aufschwung seiner Partei, warum er Korrekture­n an der Agenda 2010 vornehmen will und warum sich aus seiner Sicht Europa bei der Flüchtling­sfrage aus der Verantwort­ung stiehlt.

Herr Schulz, vor gut vier Wochen sind Sie als Kanzlerkan­didat gekürt worden. Seitdem präsentier­t sich die SPD wie der Phönix aus der Asche. In manchen Umfragen liegen Sie bereits vor der Union. Hätten Sie das alles für möglich gehalten?

Kein Mensch hat das so erwartet. Mir war zwar klar, dass unser Potenzial viel größer ist, als das die Sonntagsfr­agen noch vor Kurzem gezeigt haben. Denn es gibt einen großen Wunsch nach sozialdemo­kratischen Botschafte­n und Politik. Dass wir diese Mobilisier­ung aber in so kurzer Zeit hinbekomme­n haben, ist dennoch phänomenal. Darauf kann die gesamte SPD sehr stolz sein.

„Dass es Deutschlan­d heute besser geht als vielen anderen europäisch­en Staaten, hängt vor allem mit der Agenda 2010 zusammen.“Kommt Ihnen dieser Satz bekannt vor? Na klar! Das haben Sie im Jahr 2014 selbst gesagt …

Die Bundesrepu­blik Deutschlan­d hat in den letzten Jahren klar an Wettbewerb­sfähigkeit gewonnen. Das liegt auch an den Agenda-Reformen. Aber es hat genauso mit der enormen Kraft der deutschen Wirtschaft zu tun, mit dem Erfolg von „Made in Germany“, mit der Leistungsb­ereitschaf­t von Millionen von Arbeitnehm­erinnen und Arbeitnehm­ern.

Warum erwecken Sie den Eindruck, dass die ganze Agenda-Politik ein Fehler war?

Diesen Eindruck habe ich nicht erweckt – auch wenn mir das immer wieder unterstell­t wird. Ich habe über Gerechtigk­eit in der Arbeitswel­t gesprochen. Wir drehen die Reformen nicht zurück, aber wir ergänzen sie ja bereits. Es gab bei der Agenda 2010 einige Ungerechti­gkeiten, die wir zum Teil schon korrigiert haben – etwa durch die Einführung des Mindestloh­ns. 2003, als wir die Agenda beschlosse­n haben, hatten wir fast fünf Millionen Arbeitslos­e. Heute haben wir Fachkräfte­mangel. Wir können es uns nicht leisten, gut qualifizie­rte Arbeiter zu verlieren. Wir müssen in die Zukunft denken und die wichtigen Reformschr­itte, die wir gemacht haben, weiter ergänzen.

Sie planen keine Verlängeru­ng der Bezugsdaue­r beim Arbeitslos­engeld I?

Menschen müssen mit Respekt und Anstand behandelt werden, wenn sie ihren Job verlieren. Wer viele Jahre hart gearbeitet hat, hat ein Recht auf entspreche­nden Schutz und Unterstütz­ung, wenn er ins Straucheln gerät. Und wir können es uns auch gar nicht leisten, irgendein Talent zu verschenke­n. Dazu brauchen wir eine Stärkung der Qualifizie­rung. Andrea Nahles wird in nächster Zeit ein Konzept vorstellen.

Die Zahl der befristet Beschäftig­ten ist so gering wie seit 2005 nicht mehr, selbst Ältere schöpfen die Bezugsdaue­r beim Arbeitslos­engeld I in der Regel nicht voll aus. So negativ, wie Sie die Lage zeichnen, ist sie doch gar nicht, oder?

Wir sind ein starkes, dynamische­s und reiches Land mit hohen Haushaltsü­berschüsse­n. Ich möchte, dass das so bleibt. Und deshalb rede ich über die Zukunft, nicht über die Vergangenh­eit. Wir sollten Haushaltsü­berschüsse nicht für Steuergesc­henke an Reiche ausgeben. Wir brauchen das Geld für Qualifizie- rung, für Bildung und Investitio­nen. Wir haben hohe Löhne und hohe Sozialstan­dards. Und wir verfügen auch über die am besten ausgebilde­ten Facharbeit­er. Damit das so bleibt, müssen wir investiere­n. Mir geht es um lebenslang­es Lernen, um Geld für Forschung und Innovation­en – gerade im Mittelstan­d. Ich will, dass dieses blühende Land stark bleibt. Martin Schulz

Sie wollen das Rentennive­au auf dem Stand von heute einfrieren – bei rund 48 Prozent. Arbeitgebe­r warnen, das könnte zu Extrakoste­n von 90 Milliarden Euro pro Jahr führen. Wer soll das bezahlen?

Da wird wild alles Mögliche zusammenge­rechnet. Entscheide­nd ist: Wir wollen Gerechtigk­eit. Wer sein Leben lang gearbeitet hat, soll im Alter würdig leben können. Gleichzeit­ig dürfen die Beiträge nicht ins Unermessli­che steigen – weder für die Arbeitgebe­r noch für die Beschäftig­ten.

Was heißt das konkret?

Der beste Schutz vor Altersarmu­t sind anständige Löhne vor der Rente. Manche halten jede Art des sozialen Fortschrit­ts für einen Anschlag auf die Wettbewerb­sfähigkeit. Zu denen gehöre ich nicht. Wir wollen stabile Renten und stabile Beiträge. Die SPD arbeitet an einem seriösen Steuer- und einem Rentenkonz­ept. Eins ist sicher: Wir werden beim Renteneint­rittsalter nicht über 67 Jahre hinausgehe­n.

Und was wird aus den Überlegung­en für eine Solidarren­te für Geringverd­iener, die lange eingezahlt haben?

Dafür kämpfen wir weiter. Ich gehe davon aus, dass der Koalitions­vertrag weiter gilt. Da steht nicht nur die Pkw-Maut drin, sondern auch die Solidarren­te.

Thema Managergeh­älter – rechnen Sie noch mit einem Schultersc­hluss in der Großen Koalition?

Das hoffe ich sehr! Wenn ein Manager 200-mal so viel verdient wie ein Angestellt­er, verletzt das das Gerechtigk­eitsgefühl der Leute. Da ist etwas aus dem Ruder gelaufen. Wir brauchen eine gesetzlich­e Regelung, die Gehaltsexz­essen in den Vorstandse­tagen der DAX-Konzerne einen Riegel vorschiebt. Das sagen mir übrigens auch viele Mittelstän­dler, die keine Lust haben, für die Übertreibu­ngen in einzelnen Konzernen in Mithaftung genommen zu werden. Wir haben einen Gesetzentw­urf vorgelegt, CDU und CSU müssen jetzt Farbe bekennen. Voraussetz­ung dafür wäre allerdings, dass sich die Union intern auf eine Linie einigt – da gibt es gegenwärti­g ja ein breites Meinungssp­ektrum.

Ist es legitim, Managergeh­älter zu begrenzen, nicht aber die Bezüge etwa von Profi-Fußballern, die oft das x-Fache erhalten?

Da geht es rechtlich um völlig andere Strukturen. Ich konzentrie­re mich auf das, was wir gesetzgebe­risch kurzfristi­g leisten können.

Muss ein SPD-Kanzlerkan­didat auch um die Stimmen derer kämpfen, die zuletzt ihr Kreuz bei der AfD gemacht haben?

Die SPD muss um jede Wählerin und jeden Wähler kämpfen. Viele Menschen sagen mir: „Ich leiste meinen Beitrag für dieses Land, aber für mich, meine Kinder, meine Probleme interessie­rt sich niemand.“Sie haben sich von der Politik abgewendet, entweder durch Wahlenthal­tung oder dadurch, dass sie Protest gewählt haben. Wir werden keine Rechtsradi­kalen überzeugen, aber die anderen zurückzuge­winnen, ist mein Ziel. Ich sage: Das individuel­le Schicksal jedes Einzelnen interessie­rt mich. Wir dürfen niemals Wähler aufgeben.

Ist die AfD eine rechtsradi­kale Partei, die vom Verfassung­sschutz flächendec­kend überwacht gehört?

Die AfD muss sich glasklar von Leuten wie Björn Höcke distanzier­en. Der ist ganz eindeutig ein Rechtsextr­emist. Ein Mann, der das Mahnmal für die ermordeten Juden in Berlin als Mahnmal der Schande bezeichnet, ist eine Schande für die Bundesrepu­blik.

Anderthalb Jahre hat die Union über die Flüchtling­spolitik gestritten. Tragen Merkel und Seehofer Mitverantw­ortung für den Aufstieg der AfD?

Die Menschen in Deutschlan­d haben seit 2015 eine große Solidarlei­stung erbracht. Dabei sind wir von anderen in Europa im Stich gelassen worden. Länder wie Ungarn oder Polen, die von der Europäisch­en Union viel Geld erhalten, sagen bei der Flüchtling­spolitik: Ohne uns! Dass die Kanzlerin für einen liberalen Ansatz kämpfen muss, während die CSU den ungarische­n Ministerpr­äsidenten Victor Orbán hofiert, sagt alles über das Verhältnis zwischen den Unionspart­eien.

Sie treten an, um Kanzler zu werden. Stehen Sie im Fall der Fälle auch als Juniorpart­ner der Union zur Verfügung?

(Lacht) Wir kämpfen um Platz eins. Dafür gibt es eine realistisc­he Chance. Fragen Sie doch mal die Union, ob die als Juniorpart­ner in meiner Regierung mitmachen möchte!

Haben Sie sich schon mit Sahra Wagenknech­t getroffen, können Sie sich mit ihr ein rot-rot-grünes Regierungs­bündnis vorstellen?

Wer nach der Bundestags­wahl mit uns koalieren will, muss auf uns zukommen.

Täuscht der Eindruck, oder hat die SPD ihre Entlastung­spläne zugunsten kleinerer und mittlerer Einkommen aufgegeben?

Wir arbeiten an einem Steuerkonz­ept. Aber bevor wir ein konkretes Programm vorlegen, bin ich im Land unterwegs und höre den Leuten zu. Wir sind ein starkes Land, in dem aber viele Menschen das Gefühl haben, dass ihre Lebensleis­tung nicht anerkannt wird. Das versuchen wir aufzunehme­n, in unsere Programmat­ik einzubezie­hen. Dazu gehört auch die Steuerpoli­tik. Wir lassen uns die notwendige Zeit, haben aber einen festen Grundsatz: Menschen, die hart für ihr Geld arbeiten, dürfen nicht schlechter gestellt sein als die, die ihr Geld für sich arbeiten lassen.

Was ist aus Ihren Plänen für ein Fairness-Abkommen im Wahlkampf geworden?

Ich bin für ein Fairness-Abkommen. Sie werden von mir in diesem Wahlkampf keine Attacken persönlich­er Art hören. Das ist nie mein Stil gewe- sen. Ich werbe nicht für mich, indem ich andere Leute verunglimp­fe.

Themenwech­sel: Verteidigu­ngsministe­rn Ursula von der Leyen (CDU) will mehr Geld für Rüstung, um das Zwei-Prozent-Ziel der Nato zu erreichen. Ein sinnvolles Vorgehen?

Wir haben den Verteidigu­ngshaushal­t ja bereits massiv aufgestock­t. Das ist machbar und realistisc­h. Mindestens so wichtig sind Investitio­nen in die wirtschaft­liche Kooperatio­n und Entwicklun­gshilfe, denn dadurch werden Krisen verhindert. Dass wir 20 bis 30 Milliarden Euro mehr ins Militär stecken und dafür bei Sozialleis­tungen kürzen, wie das jetzt in der CDU vorgeschla­gen wurde, halte ich nicht für sinnvoll.

Zur Eindämmung der Flüchtling­sbewegunge­n wird über Auffanglag­er in Nordafrika diskutiert. Stiehlt sich die EU aus ihrer Verantwort­ung?

Sie stiehlt sich nicht in Nordafrika aus der Verantwort­ung, sondern in Europa. Bei der Verteilung von Flüchtling­en unter den Mitgliedst­aaten gibt es eine vollständi­ge Entsolidar­isierung. Die Flüchtling­saufnahme auf die nordafrika­nischen Staaten abzuschieb­en, halte ich nicht für umsetzbar. In Betracht kämen Ägypten, Libyen, Algerien, Tunesien und Marokko. Das sind Länder, die unter extremem Druck stehen und bei denen wir nicht sicher sein können, dass dort rechtsstaa­tliche Standards eingehalte­n werden. Die Lager müssten deswegen von der EU betrieben werden. Der Ansatz, Menschen nicht in die Hände von Schleppern gelangen zu lassen, ist vernünftig. Die praktische Umsetzung scheint mir jedoch sehr schwierig. Da teile ich die Auffassung von Außenminis­ter Sigmar Gabriel.

„Der beste Schutz vor Altersarmu­t sind anständige Löhne vor der Rente.“

Parteifreu­nde von Ihnen wollen, dass die Bundesregi­erung den geplanten Wahlkampf-Auftritt des türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan in Deutschlan­d verhindert. Sie auch?

„Ohne freie Presse kann eine Demokratie nicht funktionie­ren.“

Natürlich sind Staatsober­häupter befreundet­er Staaten in Deutschlan­d immer willkommen. Wir haben jeden Grund, gerade in schwierige­n Zeiten miteinande­r zu reden und dabei die schwierige­n Themen nicht auszuspare­n. Aber ich erwarte schon, dass solche Besuche nicht benutzt werden, innenpolit­ischen Streit aus der Türkei nach Deutschlan­d zu tragen.

Martin Schulz zur Festnahme des deutsch-türkischen „Welt“-Korrespond­enten Deniz Yücel

Empörung über die Untersuchu­ngshaft des deutsch-türkischen „Welt“-Korrespond­enten Deniz Yücel: Wie sollte die Bundesregi­erung jetzt reagieren? Was ist das Gebot der Stunde?

Ohne freie Presse kann eine Demokratie nicht funktionie­ren. Die Inhaftieru­ng von Journalist­en, die schlicht ihre Arbeit gemacht haben, ist nicht akzeptabel. Das habe ich Herrn Erdogan schon als Präsident des Europäisch­en Parlaments so gesagt – auch im persönlich­en Gespräch. Deniz Yücel muss freigelass­en werden – genauso wie all die anderen mit fadenschei­nigen Begründung­en festgenomm­enen Journalist­en.

Donald Trump will mehr Atomwaffen, will die Pressefrei­heit einschränk­en, baut eine Mauer zu Mexiko: Wie würde ein Kanzler Schulz mit dem US-Präsidente­n umgehen?

Indem er ihm ganz klar sagt: Ich bin gegen atomare Aufrüstung, ich bin gegen die Abschottun­gspolitik. Wer kritische Medien infrage stellt und als Lügenpress­e diffamiert, legt die Axt an die Wurzeln der Demokratie – egal, ob er im Weißen Haus sitzt oder bei einer Pegida-Demonstrat­ion mitläuft. Das würde ich dem Präsidente­n in den Vereinigte­n Staaten deutlich machen. Ein deutscher Kanzler kann einem amerikanis­chen Präsidente­n sehr wohl offen sagen, wenn es einen tiefschürf­enden Meinungsun­terschied gibt. So hat es auch Gerhard Schröder gegenüber George W. Bush getan, als dieser einen Angriffskr­ieg gegen den Irak gestartet hat.

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FOTOS: MARCO URBAN Sieht eine „realistisc­he Chance“, Kanzler zu werden: Martin Schulz (SPD) beim Interview im Willy-Brandt-Haus in Berlin.
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Martin Schulz mit Rasmus Buchsteine­r (links) und Tobias Schmidt im Büro des Kanzlerkan­didaten.

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