Londons schönstes Altenbegegnungszentrum
Schrullige Traditionen, finstere Drohungen: Diese Woche steht das Oberhaus im Mittelpunkt der Brexit-Debatte
- Fangen wir beim Gebet an. Das ist naheliegend in einer Parlamentskammer, der zwei Erz- und 24 Diözesanbischöfe, darunter neuerdings zwei Frauen, angehören. Man nennt sie die geistlichen Lords (Lords Spiritual), wobei es sich in diesem Fall um einen geschlechtsübergreifenden Begriff handelt. Weder Juden noch Muslime, weder Katholiken noch Sikhs gehören von Amts wegen zum britischen Oberhaus House of Lords. Deshalb haben sich die Oberhirten der anglikanischen Staatskirche von England eine freiwillige Selbstbeschränkung auferlegt: Zu tagespolitischen Fragen nehmen sie keine Stellung.
Also werden die Brexit-Debatten – nach dem obligatorischen Eingangsgebet, versteht sich – auch diese Woche von den weltlichen Lords (Lords Temporal) geführt. Der Qualität der Diskussion dürfte dies keinen Abbruch tun, sitzen auf den tiefroten Lederbänken der zweiten Parlamentskammer doch Politikprofessoren und frühere Aussenminister, EU-Kommissarinnen und Spitzenbeamtinnen in Hülle und Fülle . „Mylords“, werden sie sagen und dabei die Damen einbeziehen. Dann folgt normalerweise eine höfliche Bemerkung darüber, welche „Ehre“es sei, der Vorrednerin folgen zu dürfen – unabhängig davon, welchen Unsinn sich das Haus zuvor gerade hatte anhören müssen. Vom „anderen Ort“(the other place) werden sie sprechen und damit das Unterhaus (House of commons) meinen, das ihnen das Brexit-Austrittsgesetz überwiesen hat.
Im Spätsommer des Lebens
Der zweiten Parlamentskammer mit ihren 805 Mitgliedern, darunter ein Viertel Frauen, gehören neben den 90 Erbadeligen vor allem frühere Politiker sowie anerkannte Experten aus den unterschiedlichsten Lebensbereichen an, von Nobelpreisträgern bis hin zu Spitzensportlern. Die meisten befinden sich bereits im Spätsommer ihres Lebens, ehe sie zu Peers auf Lebenszeit ernannt werden.
Ein Rednerpult gibt es nicht, Regierung und Opposition sitzen sich auf roten Bänken, wie im Theater treppenartig ansteigend, gegenüber. Gesprochen wird stehend vom Platz aus. Und die meisten halten sich noch immer an die Konvention, dass die Parlamentarier soweit wie möglich frei sprechen sollen.
Übrigens reguliert sich die Kammer selbst. Der Lord Speaker, derzeit Norman Fowler, 79, präsidiert nur, bestimmt aber nicht die Rednerliste und spricht auch keine Ordnungsrufe aus, schliesslich wissen sich die überwiegend älteren Herrschaften (Durchschnittsalter: 69 Jahre) ordentlich zu benehmen. Alles in allem, hat der liberale Lord Paul Tyler, 75, kürzlich der BBC anvertraut, handelt es sich beim Oberhaus um „das beste Altenbegegnungszentrum Londons“.
Ob sich der Pensionistenclub dem Brexit in den Weg stellt? Tatsächlich kann das Oberhaus ein im Unterhaus beschlossenes Gesetz nicht zu Fall bringen, sondern höchstens um ein Jahr verzögern. Diesmal haben die Oppositionsfraktionen angekündigt, sie würden zwar Änderungen anstreben, das Gesetz aber höchstens einmal ans Unterhaus zurückschicken und dann dessen Votum akzeptieren. Damit bliebe Premierministerin Theresa Mays Zeitplan für die Einleitung des EU-Austritts bis spätestens Ende März intakt.
Es entbehrt nicht der Komik, dass ausgerechnet jene EU-Feinde, die gern die parlamentarische Souveränität im Mund führen, jetzt wüst mit der Abschaffung der unliebsamen Kammer drohen. Aber das sieht den Rowdys im Unterhaus ähnlich. Die 650 Abgeordneten sind von Haus aus streitbar. Es gibt auf den grünen Bänken nämlich nur Platz für 427 Volksvertreter, weshalb bei wichtigen Momenten, etwa der Fragestunde an die Premierministerin jeden Mittwochmittag, viele stehen müssen.
Außerdem brauchen die Volksvertreter einen robusten Schiedsrichter, Speaker genannt. Derzeit übt John Bercow, 54, das Amt aus. Er kauert auf einem Thron an der Stirnseite des Saales, ruft oder bellt, je nach Laune, „Order, order“– und schon kann die Debatte beginnen. Vor den beiden ersten Reihen sind rote Linien aufgemalt, der Abstand dazwischen bemisst sich als „zwei Degenlängen” – Erinnerung an die Zeit, als der öffentliche Disput gerade erst die Waffengewalt als Mittel der Auseinandersetzung abgelöst hatte.
„Hört, hört“statt Applaus
Dass Abgeordnete sich stets an den Speaker wenden und von ihrem Gegenüber in der dritten Person sprechen, gehört ebenso zur Tradition wie die Tatsache, dass Applaus verpönt ist. Zustimmung wird mit lauten „Hear, hear“-Rufen ausgedrückt, was sich verblüffend ähnlich anhört wie eine Herde blökender Schafe. Zwischen den „ehrenwerten” und „sehr ehrenwerten Mitgliedern” herrscht ein robuster Ton, exquisite Beleidigungen inbegriffen. „Der sehr ehrenwerte Gentleman würde die Wahrheit selbst dann nicht erkennen, wenn sie quer über seine Augäpfel gesprüht würde”, ätzte einst Labour-Mann Dennis Skinner, auch als „Bestie von Bolsover” bekannt. Ehrenwerte Mitglieder als betrunken zu bezeichnen ist verpönt, aber der gebräuchliche Euphemismus lässt keine Zweifel offen: „müde und emotional” muss sich nennen lassen, wer einen über den Durst getrunken hat.
Müde werden die britischen Parlamentarier am Ende ihrer BrexitDebatten auf jeden Fall sein. Womöglich schon nächste, spätestens aber übernächste Woche werden sie das derzeit zur Diskussion stehende Austrittsgesetz verabschiedet haben. Dann verliest ein Beamter der Krone den Gesetzestitel, ein Parlamentsdiener antwortet in normannischem Französisch: „La Reyne le veult“– die Queen will es. Der Satz ist ein Überbleibsel aus jenen Zeiten, als der britische Adel die Sprache der Eroberer von 1066 benutzte. 951 Jahre später läutet also eine altfranzösische Phrase den Abschied der Insel vom Kontinent ein.