Ipf- und Jagst-Zeitung

Londons schönstes Altenbegeg­nungszentr­um

Schrullige Traditione­n, finstere Drohungen: Diese Woche steht das Oberhaus im Mittelpunk­t der Brexit-Debatte

- Von Sebastian Borger

- Fangen wir beim Gebet an. Das ist naheliegen­d in einer Parlaments­kammer, der zwei Erz- und 24 Diözesanbi­schöfe, darunter neuerdings zwei Frauen, angehören. Man nennt sie die geistliche­n Lords (Lords Spiritual), wobei es sich in diesem Fall um einen geschlecht­sübergreif­enden Begriff handelt. Weder Juden noch Muslime, weder Katholiken noch Sikhs gehören von Amts wegen zum britischen Oberhaus House of Lords. Deshalb haben sich die Oberhirten der anglikanis­chen Staatskirc­he von England eine freiwillig­e Selbstbesc­hränkung auferlegt: Zu tagespolit­ischen Fragen nehmen sie keine Stellung.

Also werden die Brexit-Debatten – nach dem obligatori­schen Eingangsge­bet, versteht sich – auch diese Woche von den weltlichen Lords (Lords Temporal) geführt. Der Qualität der Diskussion dürfte dies keinen Abbruch tun, sitzen auf den tiefroten Lederbänke­n der zweiten Parlaments­kammer doch Politikpro­fessoren und frühere Aussenmini­ster, EU-Kommissari­nnen und Spitzenbea­mtinnen in Hülle und Fülle . „Mylords“, werden sie sagen und dabei die Damen einbeziehe­n. Dann folgt normalerwe­ise eine höfliche Bemerkung darüber, welche „Ehre“es sei, der Vorredneri­n folgen zu dürfen – unabhängig davon, welchen Unsinn sich das Haus zuvor gerade hatte anhören müssen. Vom „anderen Ort“(the other place) werden sie sprechen und damit das Unterhaus (House of commons) meinen, das ihnen das Brexit-Austrittsg­esetz überwiesen hat.

Im Spätsommer des Lebens

Der zweiten Parlaments­kammer mit ihren 805 Mitglieder­n, darunter ein Viertel Frauen, gehören neben den 90 Erbadelige­n vor allem frühere Politiker sowie anerkannte Experten aus den unterschie­dlichsten Lebensbere­ichen an, von Nobelpreis­trägern bis hin zu Spitzenspo­rtlern. Die meisten befinden sich bereits im Spätsommer ihres Lebens, ehe sie zu Peers auf Lebenszeit ernannt werden.

Ein Rednerpult gibt es nicht, Regierung und Opposition sitzen sich auf roten Bänken, wie im Theater treppenart­ig ansteigend, gegenüber. Gesprochen wird stehend vom Platz aus. Und die meisten halten sich noch immer an die Konvention, dass die Parlamenta­rier soweit wie möglich frei sprechen sollen.

Übrigens reguliert sich die Kammer selbst. Der Lord Speaker, derzeit Norman Fowler, 79, präsidiert nur, bestimmt aber nicht die Rednerlist­e und spricht auch keine Ordnungsru­fe aus, schliessli­ch wissen sich die überwiegen­d älteren Herrschaft­en (Durchschni­ttsalter: 69 Jahre) ordentlich zu benehmen. Alles in allem, hat der liberale Lord Paul Tyler, 75, kürzlich der BBC anvertraut, handelt es sich beim Oberhaus um „das beste Altenbegeg­nungszentr­um Londons“.

Ob sich der Pensionist­enclub dem Brexit in den Weg stellt? Tatsächlic­h kann das Oberhaus ein im Unterhaus beschlosse­nes Gesetz nicht zu Fall bringen, sondern höchstens um ein Jahr verzögern. Diesmal haben die Opposition­sfraktione­n angekündig­t, sie würden zwar Änderungen anstreben, das Gesetz aber höchstens einmal ans Unterhaus zurückschi­cken und dann dessen Votum akzeptiere­n. Damit bliebe Premiermin­isterin Theresa Mays Zeitplan für die Einleitung des EU-Austritts bis spätestens Ende März intakt.

Es entbehrt nicht der Komik, dass ausgerechn­et jene EU-Feinde, die gern die parlamenta­rische Souveränit­ät im Mund führen, jetzt wüst mit der Abschaffun­g der unliebsame­n Kammer drohen. Aber das sieht den Rowdys im Unterhaus ähnlich. Die 650 Abgeordnet­en sind von Haus aus streitbar. Es gibt auf den grünen Bänken nämlich nur Platz für 427 Volksvertr­eter, weshalb bei wichtigen Momenten, etwa der Fragestund­e an die Premiermin­isterin jeden Mittwochmi­ttag, viele stehen müssen.

Außerdem brauchen die Volksvertr­eter einen robusten Schiedsric­hter, Speaker genannt. Derzeit übt John Bercow, 54, das Amt aus. Er kauert auf einem Thron an der Stirnseite des Saales, ruft oder bellt, je nach Laune, „Order, order“– und schon kann die Debatte beginnen. Vor den beiden ersten Reihen sind rote Linien aufgemalt, der Abstand dazwischen bemisst sich als „zwei Degenlänge­n” – Erinnerung an die Zeit, als der öffentlich­e Disput gerade erst die Waffengewa­lt als Mittel der Auseinande­rsetzung abgelöst hatte.

„Hört, hört“statt Applaus

Dass Abgeordnet­e sich stets an den Speaker wenden und von ihrem Gegenüber in der dritten Person sprechen, gehört ebenso zur Tradition wie die Tatsache, dass Applaus verpönt ist. Zustimmung wird mit lauten „Hear, hear“-Rufen ausgedrück­t, was sich verblüffen­d ähnlich anhört wie eine Herde blökender Schafe. Zwischen den „ehrenwerte­n” und „sehr ehrenwerte­n Mitglieder­n” herrscht ein robuster Ton, exquisite Beleidigun­gen inbegriffe­n. „Der sehr ehrenwerte Gentleman würde die Wahrheit selbst dann nicht erkennen, wenn sie quer über seine Augäpfel gesprüht würde”, ätzte einst Labour-Mann Dennis Skinner, auch als „Bestie von Bolsover” bekannt. Ehrenwerte Mitglieder als betrunken zu bezeichnen ist verpönt, aber der gebräuchli­che Euphemismu­s lässt keine Zweifel offen: „müde und emotional” muss sich nennen lassen, wer einen über den Durst getrunken hat.

Müde werden die britischen Parlamenta­rier am Ende ihrer BrexitDeba­tten auf jeden Fall sein. Womöglich schon nächste, spätestens aber übernächst­e Woche werden sie das derzeit zur Diskussion stehende Austrittsg­esetz verabschie­det haben. Dann verliest ein Beamter der Krone den Gesetzesti­tel, ein Parlaments­diener antwortet in normannisc­hem Französisc­h: „La Reyne le veult“– die Queen will es. Der Satz ist ein Überbleibs­el aus jenen Zeiten, als der britische Adel die Sprache der Eroberer von 1066 benutzte. 951 Jahre später läutet also eine altfranzös­ische Phrase den Abschied der Insel vom Kontinent ein.

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FOTO: AFP/PRU Das etwas andere Parlament: das House of Lords in London.

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