Ungleiche Chancen
Studie: Jeder achte ausländische Schüler ohne Abschluss
BERLIN (dpa) - Mangelnde Chancengerechtigkeit für junge Migranten ist nach einer neuen Bildungsstudie eines der Hauptprobleme im deutschen Schulsystem. Für Jugendliche mit ausländischem Pass sei inzwischen das Risiko eines Abbruchs – ohne zumindest den Hauptschulabschluss zu erreichen – mehr als doppelt so hoch wie für ihre deutschen Mitschüler. Zu dem Ergebnis kommt der „Chancenspiegel 2017“der Bertelsmann-Stiftung, eine umfangreiche Analyse schulstatistischer Daten von 2002 bis 2014.
Während der Anteil aller Schüler ohne Abschluss seit 2011 von 6,2 auf 5,8 Prozent sank, stieg die Quote bei ausländischen Schülern im gleichen Zeitraum von 12,1 auf 12,9 Prozent. Vergleicht man die jetzige Situation mit der Lage vor 15 Jahren, zeigt sich eine Besserung: Der Anteil aller Schulabgänger ohne Abschluss lag 2002 bei 9,2 Prozent, bei Ausländern waren es sogar 16,7 Prozent.
- Vom Risikoschüler zum Schulabbrecher ohne Abschluss und „Loser“auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt: Für bundesweit 50 000 Jugendliche pro Jahr ist das eine so traurige wie realistische Perspektive. Mal abgesehen vom volkswirtschaftlichen Schaden durch quasi programmierte Arbeitslose: Deutschland hat auch ein Gerechtigkeitsproblem, wenn sein Bildungssystem nicht verhindert, dass so viele junge Leute „ganz ohne Schulabschluss unten rauspurzeln“, wie Bertelsmann-Stiftungsvorstand Jörg Dräger sagt.
Unter anderem dieser ProblemKlientel widmet sich die am Mittwoch präsentierte Bildungsstudie „Chancenspiegel 2017“im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung. Die Abbrecher-Quoten sind zwar besser als nach dem „PISA-Schock“vor 15 Jahren, aber sie werfen immer noch ein düsteres Licht auf den engen Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg in Deutschland.
Sachsen-Anhalt als Schlusslicht
Manche Bundesländer müssen sich fragen lassen, ob sie genug getan haben für ihre oft aus schwierigen oder prekären Verhältnissen stammenden Risikoschüler mit mangelhaften Grundkenntnissen. In Sachsen-Anhalt (9,7 Prozent) und Berlin (9,2) ging nach den derzeit aktuellsten Daten 2014 fast jeder zehnte Jugendliche ohne Abschluss von der Schule. Bayern (4,5) und Baden-Württemberg (5,0) standen indes gut da.
In Schleswig-Holstein, als neuer Musterknabe der Bildungspolitik zuletzt gelobt, war die Quote mit 7,6 Prozent mittelmäßig. Hier könne sich ein Landesprogramm auszahlen, sagt der Jenaer Bildungsforscher Nils Berkemeyer. In Baden-Württemberg, über viele Jahre Spitze in puncto Bildungspolitik, zeigte die Leistungskurve zuletzt nach unten – zu viele hektische Reformen in kurzer Zeit, vermuten Schulentwicklungsexperten wie der Dortmunder Professor Wilfried Bos.
Bundesweit ist der Anteil der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss seit 2002 – dem Jahr des bildungspolitischen Neustarts nach dem PISA-Fiasko – von 9,2 auf 5,8 Prozent gesunken. Aber genügt das dem Anspruch an ein Schulsystem, gerecht zu sein? Der „Chancenspiegel“– eine 430 Seiten starke Analyse schulstatistischer Daten – sieht Gerechtigkeit erst dann verwirklicht, wenn Schulsysteme „sämtliche Potenziale von Schülerinnen und Schülern ausschöpfen und keine systembedingten einseitigen Fördereffekte zulassen“.
Besonders bei Ausländern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist noch viel zu tun. Sie sind besonders bedroht vom Schulversagen mit all seinen Folgen für Ausbildung und Jobsuche. So fiel die AbbrecherQuote bei ausländischen Schülern zunächst von 16,9 (2003) auf 12,1 Prozent (2011), kletterte seitdem aber wieder auf 12,9 Prozent. In Baden-Württemberg lag sie zuletzt bei 11,1 Prozent. Die bundesweite Entwicklung sähe laut dem Bildungsforscher Bos dramatischer aus, wenn man nicht nur die Schüler mit ausländischem Pass anschaue, sondern zusätzlich die jungen Deutschen aus Zuwandererfamilien ohne jeden Schulabschluss.
Was ein hoher Anteil schlecht gebildeter Schüler für die Bundesrepublik langfristig bedeuten kann, hatte vor einigen Jahren das ifo-Institut für Wirtschaftsforschung hochgerechnet: „Die Folgekosten unzureichender Bildung durch entgangenes Wirtschaftswachstum summieren sich innerhalb der kommenden achtzig Jahre – der Lebensspanne heute geborener Kinder – auf rund 2,8 Billionen (2800 Milliarden) Euro“, lautete das Fazit des Bildungsökonomen Professor Ludger Wößmann.