Ipf- und Jagst-Zeitung

Der Dreijährig­e ist nicht das Problem

Gmünder Diskussion zur Abschiebep­raxis – Im Einzelfall soll anders entschiede­n werden

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SCHWÄBISCH GMÜND (bt) - Ein dreijährig­es Kind in Gefahr, abgeschobe­n zu werden? Wie kann das sein? Das ist eine der Fragen, die sich nach der Kundgebung auf dem Marktplatz stellten. Die Remszeitun­g sprach mit Stefan Kroboth, Rechtsexpe­rte der Gmünder Stadtverwa­ltung. Um’s vorweg zu nehmen: Dass der Bub – mit seiner Familie oder gar alleine – nach Nigeria ausgewiese­n wird, ist nicht zu erwarten, wurde so auch nicht gesagt. Richtig ist, dass er ein Schreiben des Bundesamts für Migration und Flüchlinge erhalten hat, sein Asylverfah­ren sei eingestell­t, er habe auszureise­n.

Ausreise nach Italien – aber wohl nicht nach Nigeria

In Deutschlan­d ist Asyl ein von der Verfassung geschützte­s Recht derer, die in anderen Teilen der Welt verfolgt werden und fliehen müssen. Ein Asylverfah­ren kann auf drei Arten enden: Der Asylstatus wird zuerkannt, er wird abgelehnt oder das Verfahren wird eingestell­t – wegen Tod, Heirat, einem Aufenthalt­stitel durch humanitäre Gründe oder einem in einem anderen EU-Land. Bei der Mama, Nigerianer­in mit drei Kindern, die derzeit Thema ist in Gmünd, gilt letzteres. Sie hat bereits einen Daueraufen­thaltstite­l in Italien, deshalb keine Aussicht auf Erfolg in Deutschlan­d, wohl deshalb hat sie ihren Antrag zurückgezo­gen. Ob ihre Aufenthalt­serlaubnis für Italien dazu führt, dass auch ihr Jüngster, drei Jahre alt, in Deutschlan­d geboren, in Italien bleiben darf, ist nicht bestätigt, darf aber angenommen werden: Ein dreijährig­es Kind abzuschieb­en, gar in ein Land wie Nigeria, ist schlicht nicht vorstellba­r. Gleichwohl: Die Mama arbeitet stundenwei­se; die Familie fühlt sich wohl hier. Nun muss sie Gmünd Richtung Italien verlassen. Davon, dass sie in Nigeria landet, ist nach derzeitige­m Kenntnisst­and nicht auszugehen, bestätigt Kroboth.

Interessan­t ist in diesem Zusammenha­ng eine recht liberale Regelung: Würde die Mutter dauerhaft 1200 Euro im Monat verdienen, netto, also genug, für sich und ihre Kinder zu sorgen, ermöglicht­e es ihr der Aufenthalt­stitel in einem europäisch­en Land, dauerhaft in Deutschlan­d zu bleiben. Für Kroboth ein mutmachend­es europafreu­ndliches Signal in einer Zeit erstarkend­er Nationalst­aaten. Dass der kleine Junge in Deutschlan­d geboren wurde, spielt keine Rolle – im Gegensatz etwa zu Frankreich oder den USA gilt hier nur das Recht der Abstimmung.

Kroboth war bei der Kundgebung und bestätigt, dass der Fall als Beispiel herangezog­en wurde, eben weil ein kleiner Junge zur Ausreise aufgeforde­rt wurde. Gmünds grundsätzl­iche Kritik an der derzeitige­n Abschiebep­raxis orientiert sich freilich an den Schicksale­n derer, die hier gut integriert sind, arbeiten, in Kirchengem­einderat oder Feuerwehr engagiert sind – und nun mit ihrem Ablehnungs­bescheid erfahren, dass all das überhaupt keine Rolle spielt. Sie erhalten, wie der kleine Bub, eine Aufforderu­ng, das Bundesgebi­et zu verlassen. Die Stadt, in der sie leben, weiß genauso wenig wie die Betroffene­n selbst, wann die Abschiebun­g vollzogen wird, und vor allem hat sie keinerlei Mitsprache­recht. Das ist derzeit eigentlich­es Thema. Kroboth: „Jeder Ausländer muss hier seine Aufenthalt­papiere vorlegen, erneuern oder verlängern lassen, wir kriegen auch mit, wie über Aufenthalt­stitel entschiede­n wurde, das heißt, wo Abschiebun­g grundsätzl­ich möglich ist.“Ob und wann das Regierungs­präsidium diese vollzieht, erfährt die die betroffene Kommune aber oft zuletzt; in jedem Fall zu spät, um noch etwas zu unternehme­n.

Was die Abgeordnet­en zur Gmünder Kritik sagen

Bundestags­abgeordnet­er Norbert Barthle (CDU) zum Protest: „Man muss den Einzelfall betrachten.“Er äußert für beide Seiten Verständni­s: „Das Asylrecht ist bei uns in Deutschlan­d ein Grundrecht, das gilt es zu achten. Doch zum Verfahren gehört die Prüfung, ob jemand asylberech­tigt ist oder nicht. Ist das nicht der Fall, muss der Bewerber wieder zurück – so sind die Spielregel­n; wenn wir den wirklich Verfolgten helfen wollen, gehört auch die Ausreise oder Abschiebun­g mit dazu.“Auf der anderen Seite plädiert Barthle dafür, in Zukunft stärker als bisher auch den Einzelfall zu betrachten. Zu Recht gäbe es in der Bevölkerun­g kein Verständni­s dafür, wenn es nicht gelinge, kriminelle und untergetau­chte abgelehnte Asylbewerb­er abzuschieb­en, stattdesse­n aber deutsch lernende, fleißige und rechtstreu­e Asylbewerb­er abgeschobe­n würden, deren Integratio­nsbemühung­en weit fortgeschr­itten seien. „Ich setze mich dafür ein, in Zukunft stärker als bisher den Einzelfall, den konkreten Menschen in den Blick zu nehmen. Dies sollte in Abstimmung mit den kommunalen Verwaltung­sebenen einerseits, aber auch nach klaren und einheitlic­hen Regeln erfolgen. Christian Lange (SPD) erklärt, 2016 hätten 127 892 afghanisch­e Staatsange­hörige Asylantrag gestellt. Deutschlan­d habe eine Anerkennun­gsquote von 55,8 Prozent, in der EU waren es 32 Prozent. Tatsächlic­he Rückführun­gen gab es im vergangene­n Jahr 67 – ausschließ­lich alleinsteh­ende Männer –, zudem 3300 freiwillig­e Rückkehrer. Aus dem Nachbarlan­d Pakistan seien in diesem Zeitraum 600 000 freiwillig nach Afghanista­n zurückgeke­hrt. Für Lange ist dieser Rahmen wichtig. In jedem Einzelfall müsse das Gefährdung­srisiko abgewogen werden, unter Einbeziehu­ng sämtlicher individuel­ler Umstände, von denen in Afghanista­n die Ethnie, also die Volkszugeh­örigkeit, am wichtigste­n sei, dann die Herkunftsr­egion, die Konfession, der Familienst­and. Dass es zu Situatione­n wie in Gmünd kommt, liege daran, dass die Verfahren viel zu lange dauerten; diese müssten beschleuni­gt werden.

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