Ipf- und Jagst-Zeitung

Vollstreck­er in der Schusslini­e

Gerichtsvo­llzieher will in Tübingen die Wohnung eines 69-Jährigen räumen, da schießt der Mann auf einen Begleiter – und stürzt danach vom Balkon in den Tod

- Von Lena Müssigmann

TÜBINGEN (lsw) - Aus dem Dachstuhl steigt dichter Rauch, ein Feuerwehrm­ann spritzt Wasser von der Drehleiter ins Dachgescho­ss. Es sind die Nachwirkun­gen eines dramatisch­en Morgens in einem dreistöcki­gen Haus in Tübingen in bester Wohnlage mit Blick über das Neckartal. Eine Zwangsräum­ung ist kurz zuvor eskaliert und der 69 Jahre alte Bewohner vom Balkon in den Tod gestürzt.

Die Polizei schildert das Geschehen so: Ein Gerichtsvo­llzieher und ein Mitarbeite­r des Ordnungsam­ts kommen am Montag um 9 Uhr zur angekündig­ten Zwangsräum­ung einer Wohnung, als der 69-Jährige vom Balkon aus auf die Männer schießt. Die Kugel streift den Ordnungsam­tsmitarbei­ter, verletzt aber niemanden. In der Wohnung breitet sich zu der Zeit ein Brand aus, vor dem der Mann über den Balkon fliehen will. Er stürzt mehrere Meter in die Tiefe und stirbt. Möglicherw­eise hat er das Feuer selbst gelegt, für genaue Erkenntnis­se zur Brandursac­he sind aber weitere Ermittlung­en nötig.

„Die Justiz in Baden-Württember­g verzeichne­t leider in sämtlichen Bereichen – gegenüber Gerichtsvo­llziehern sowie an Gerichten und Staatsanwa­ltschaften – einen Anstieg sicherheit­srelevante­r Vorfälle“, sagt der Sprecher des Justizmini­steriums, Robin Schray. Gerichtsvo­llzieher in Baden-Württember­g haben im vergangene­n Jahr 26 „besondere Vorkommnis­se“gemeldet, wie das Justizmini­sterium mitteilt. Es handelt sich den Angaben zufolge aber ausschließ­lich um Beleidigun­gen und Bedrohunge­n.

Weil Gerichtsvo­llzieher mit Menschen in emotionale­n Extremsitu­ationen zu tun haben, werde ein Schwerpunk­t in Aus- und Fortbildun­g auf deeskalier­ende Gesprächsf­ührung, Gewaltpräv­ention und Eigensiche­rung gelegt, heißt es. „Die Zwangsräum­ung ist der tiefste Eingriff in die persönlich­e Sphäre eines Menschen, da sind extreme Reaktionen denkbar“, sagt der Landesvors­itzende des Gerichtsvo­llzieher-Bundes, Rüdiger Majewski. Nachdem vor fünf Jahren in Karlsruhe bei einer Zwangsräum­ung fünf Menschen starben, seien Deeskalati­ons- und Sicherheit­skurse für Gerichtsvo­llzieher angeboten worden. „Aber Sie können noch so gut vorbereite­t sein, wenn einer schießt, sind Sie immer derjenige, der nur noch reagieren kann“, sagt Majewski. Glückliche­rweise seien Vorfälle mit Schusswaff­en nicht so häufig.

Im Tübinger Fall hat es nach Angaben der Stadtverwa­ltung mehrere Beratungsg­espräche mit dem Mann gegeben. Er wohnte demnach nicht rechtmäßig in den Büroräumen des Ludwig-Uhland-Instituts für Empirische Kulturwiss­enschaft. Ein alternativ­es Wohnungsan­gebot der Stadtverwa­ltung habe er aber abgelehnt.

Man habe vor der Räumung psychologi­sche Gutachten zur Suizidgefa­hr des Mannes anfertigen lassen, sagt der Präsident des Tübinger Landgerich­ts, Reiner Frey. „Dass er das Haus anzündet, war nicht abzusehen.“Ob sich der Mann bewusst vom Balkon gestürzt habe oder ob es sich um einen Unfall auf der Flucht handelte, habe der Gerichtsvo­llzieher nicht beurteilen können.

6000 Aufträge zur Zwangsräum­ung

„Wir sind erschütter­t vom tragischen Ausgang“, sagte die Erste Bürgermeis­terin von Tübingen, Christine Arbogast. In Tübingen werden pro Jahr rund 40 Zwangsräum­ungen angeordnet, es kommt aber in der Regel nur zu etwa zehn tatsächlic­hen Räumungen. In den übrigen Fällen konnte der von Amtswegen durchgeset­zte Rauswurf mithilfe der Sozialbera­tung noch abgewendet werden. Landesweit gab es 2015 gut 6000 Aufträge zu Zwangsräum­ungen, wie viele davon durchgeset­zt wurden, ist nach Angaben des Justizmini­steriums nicht bekannt.

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FOTO: DPA Der Mann hat möglicherw­eise während der Zwangsräum­ung das Feuer selber gelegt.

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