Ipf- und Jagst-Zeitung

Bleibt alles Anders

Der frühere Modern-Talking-Musiker Thomas Anders füllt in den USA Konzerthal­len

- Von Frank Herrmann

- In den 1980er-Jahren verkauften Thomas Anders und Dieter Bohlen unter dem Namen Modern Talking 60 Millionen Tonträger, bevor es zum Streit und zur Auflösung der Band kam. Während Bohlen als Casting-Dauerbrenn­er bei RTL durchstart­ete, feiert Anders nun in den USA Erfolge – mit Nostalgie-Pop vor ausverkauf­ten Häusern.

Postkarten­schöne Bilder aus San Francisco flimmern über die Bühne, die Golden Gate Bridge, steile Straßen, alte Straßenbah­nen. Fehlen nur noch die berühmten Seelöwen vom Pier 39. Er wolle die Leute auf eine Reise nach Kalifornie­n mitnehmen, hatte Thomas Anders das Lied angekündig­t, „Der beste Tag meines Lebens“, einen Titel vom neuen Soloalbum „Pures Leben“, das am kommenden Freitag beim Musikriese­n Warner Music erscheint.

Die Leute aber wollen etwas anderes, sie wollen Schnulzen aus den Achtzigerj­ahren. Wann immer der Sänger ansagt, dass als Nächstes ein solches Lied folgt, „a song from the eighties!“, bricht ein Jubelsturm los.

Der Schauplatz: Die Constituti­on Hall, eine altehrwürd­ige Halle schräg gegenüber des Weißen Hauses, in der auch schon Superstars wie Whitney Houston auftraten. Das Publikum: Ukrainer, Russen, Letten, Litauer, Vietnamese­n – um genauer zu sein, Amerikaner mit Wurzeln in diesen Ländern. Anders singt vor den Kindern von Auswandere­rn, die es nach dem Ende des Kalten Krieges zum früheren Klassenfei­nd verschlage­n hat. Und vor den Auswandere­rn selber. Jedenfalls ist Russisch die Sprache, die das Stimmengew­irr im Foyer und an den Weintheken der Constituti­on Hall prägt.

Um das Phänomen zu erklären, sagt Lutz-Rainer Seidel, müsse er mit dem Kalten Krieg beginnen, mit einem Kapitel Kulturgesc­hichte aus jener Zeit. Seidel, der aus Dresden stammt, sitzt neben Anders, der mit bürgerlich­em Namen Bernd Weidung heißt, in einem Fischresta­urant an der K Street, die der Volksmund „Lobby Lane“nennt, weil sich dort die Büros der Hauptstadt-Lobbyisten konzentrie­ren. Während der sonnengebr­äunte Sänger in kleiner Runde davon erzählt, wie er im Alter von sechs Jahren seinen ersten Auftritt in einem Schützenve­rein hatte, als Gage belohnt mit einer Tüte Chips und einer Schokolade, erzählt sein Impresario von einer Tagung des Rates für Gegenseiti­ge Wirtschaft­shilfe.

Das Gegenteil von subversiv

Auf der sei irgendwann Mitte der 1980er-Jahre beschlosse­n worden, Schallplat­ten mit Liedern von Modern Talking zu pressen. Es war der amtliche Segen für eine Musik, an der die Funktionär­e nichts Subversive­s entdecken konnten. „Musikalisc­h wollte man Friede, Freude, Eierkuchen“, erinnert sich Seidel, „und seien wir ehrlich, Modern Talking rief ja nun nicht gerade zur Revolution auf“. So kam es, dass Anders und Bohlen östlich der Elbe auf Hunderttau­senden von Platten zu hören waren, auf manchen offiziell und sehr vielen offenbar schwarz gepressten. Bis nach Hanoi und Kamtschatk­a, sagt Seidel. Aber auch im Iran.

Vor ein paar Jahren war es dann ein aus Teheran stammender Armenier, der sich bei dem Manager meldete und Interesse an einer Tournee signalisie­rte. Der Mann lebte inzwischen in Los Angeles, wo auch Anders drei Jahre verbracht hatte, als er 1987 nach dem ersten Bruch mit Bohlen ein Haus in Beverly Hills mietete, um zur Ruhe zu kommen.

Der aus Teheran nach Kalifornie­n gezogene armenische Iraner also organisier­te Anders’ Konzertsta­rt in den Vereinigte­n Staaten. Seidel wollte erst nicht so recht daran glauben, aber dann wurde es – dank der Fans der Migranteng­emeinde – ein voller Erfolg. Der Premiere des Jahres 2015 folgten im März diesen Jahres nun Auftritte in Washington, Boston und Seattle, jeweils vor ausverkauf­ten Häusern.

„You’re My Heart, You’re My Soul“, „Brother Louie“, „Cheri, Cheri Lady“: Die alten Lieder haben die Constituti­on Hall, ein neoklassiz­istisches Architektu­rdenkmal, in eine Disco verwandelt. Je länger Anders singt, umso ausgelasse­ner tanzt das vornehmlic­h weibliche Publikum. Die Musik, erklärt Seidel den Jubel, erinnere die Ukrainer, Russen, Letten an ihre Familienfe­iern von früher. Es sei wie mit einem ebenso alten wie fernen Bekannten, den man endlich mal aus der Nähe sehe.

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FOTO: IMAGO Thomas Anders – hier bei einem Auftritt in Duisburg – hat in den Vereinigte­n Staaten viele Fans.

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