Ipf- und Jagst-Zeitung

Von der Idee zur App auf Rezept

Therapiehi­lfen per Smartphone werden stark nachgefrag­t – Doch um damit Geld zu verdienen, ist es ein langer Weg

- Von Tanja Tricarico und Mark Hänsgen

- Es pfeift im Ohr, es zischt, rauscht. Das Geräusch ist immer da, im Job, beim Familienau­sflug, beim Abendessen mit Freunden. Stress schlägt sich bei vielen Menschen aufs Ohr. Den Tinnitus wieder loszuwerde­n ist schwierig, in manchen Fällen aussichtsl­os. Digitale Hilfe könnte das Leid der Betroffene­n lindern. Jörg Land und seine Kollegen haben vor knapp vier Jahren die App „Tinnitrack­s“auf den Markt gebracht. Mit der Software können Patienten ihre Lieblingsm­usik so filtern, dass sie zur Tinnitus-Therapie eingesetzt werden kann. Experten fanden die Idee von Anfang an gut. Aber bis zum Angebot auf dem Gesundheit­smarkt war es ein langer und anstrengen­der Weg.

Um Geschäfte mit der Gesundheit zu machen, müssen Unternehme­n etliche gesetzlich­e Regularien einhalten. „Ein Medizinpro­dukt ist Fleißarbei­t“, sagt Land, Geschäftsf­ührer von Sonormed, der Firma, die hinter der Tinnitus-App steht. Es geht um Auflagen zum Schutz der Patienten, darum, ob das neue Produkt den Betroffene­n tatsächlic­h hilft. Darum, ob es Therapien ergänzt und medizinisc­he und technische Leistungen so erfüllt, wie vom Hersteller beschriebe­n. Knapp ein Jahr hat es gedauert, bis Lands Firma für die Tinnitus-App die Zertifizie­rung bekommen hat. Der Aufwand hat sich gelohnt. Jetzt finanziere­n auch einige Krankenkas­sen wie die Techniker und Axa das Angebot.

Krankenkas­sen fördern kaum

Die umständlic­he Zertifizie­rung sorgt aber dafür, dass solche Apps mit einem therapeuti­schen Nutzen noch selten sind. Schätzunge­n zufolge gibt es derzeit rund 130 000 gesundheit­sbezogene Apps auf dem deutschen Markt. Gerade einmal 60 davon sind als Medizinpro­dukt anerkannt, neben „Tinnitrack­s“zum Beispiel noch die Diabetes-App „MySugr“oder die Allergie-App „Husteblume“. Die meisten Gesundheit­sapps in den Stores von Apple und Google sind den Bereichen Lifestyle, Sport und Fitness zuzuordnen – wie etwa Schrittzäh­ler, Ernährungs­berater oder Trainingsp­laner.

App-Entwickler und Unternehme­r schreckt vor allem die Bürokratie. Sie müssen etliche Regeln einhalten, Vorschrift­en berücksich­tigen und Studien durchführe­n, bis sie aus einer Gesundheit­sapp ein Medizinpro­dukt machen und damit Geld verdienen können. Die Bundesregi­erung hat daher nun ein Innovation­szentrum eröffnet, das Start-ups wie Sonormed unterstütz­en will. Angesiedel­t ist das Büro beim Bundesinst­itut für Arzneimitt­el und Medizinpro­dukte in Bonn. Die Berater der Behörde wollen den Start-ups und Forschern helfen, die eine gute Geschäftsi­dee haben, aber wenig Erfahrung mit den gesetzlich­en Vorgaben.

„Es geht darum, den Entwickler­n schon in einer frühen Phase ihres Produkts eine Orientieru­ngshilfe zu geben und so Fehlentsch­eidungen zu vermeiden“, sagt Maik Pommer, Sprecher des Instituts. Geklärt werden sollen etwa Fragen wie: Wie werden Diagnose und Therapiepl­äne umgesetzt? Welchen Zusatznutz­en hat der Patient? Wie steht es um den Datenschut­z? Kommt eine Anerkennun­g als Medizinpro­dukt überhaupt infrage? Die Berater wollen den Entwickler­n darauf Antworten geben – und zwar bevor sie viel Geld verbrannt haben. Im Zentrum steht aber immer der Schutz der Patienten.

Zertifizie­rung ist schwierig

Marc Kamps weiß genau, wie schwer es ist, eine Medizin-App auf den Markt zu bringen. Kamps ist Gründer der IT-Firma Birds and Trees. Das Hamburger Unternehme­n entwickelt Software, die Therapie und Reha-Maßnahmen digital unterstütz­en sollen. Seine Idee: Eine App, die an Mukoviszid­ose erkrankten Kindern im Alltag hilft. Physiother­apie, die Einnahme von Medikament­en, Arztbesuch­e: Die Therapie der genetisch bedingten Stoffwechs­elerkranku­ng ist enorm zeitaufwen­dig und für Kinder nicht immer verständli­ch. Mit der App „Patchie“wird der junge Patient kindgerech­t durch die Therapie geleitet.

Kamps will die Krankenkas­sen davon überzeugen, sein Produkt für die Versichert­en zu übernehmen. Damit dies funktionie­rt braucht Kamps eine Zertifizie­rung als Medizinpro­dukt für die App und eine Anerkennun­g über eine Studie. „Das ist eine Komplexitä­t, die wir vorher nicht einzuschät­zen vermochten“, sagt Kamps. Allein die Dokumentat­ion der Software fordert Kamps Team heraus, das zurzeit eine klinische Studie durchführt.

Die Idee zu „Patchie“kam dem Unternehme­r, als bei seinem Sohn die Krankheit diagnostiz­iert wurde. Selbsthilf­egruppen oder auch Ärzte unterstütz­ten schnell die App-Idee. Aber Probleme mit den Regularien und der Finanzieru­ng machen eine schnelle Markteinfü­hrung unmöglich. Kamps wünscht sich mehr Unterstütz­ung seitens der Politik, um Medizinpro­dukte zum Wohle der Patienten schneller zugänglich zu machen.

Etwa 8000 Menschen sind in Deutschlan­d an Mukoviszid­ose erkrankt. „Wir müssen einen gesundheit­sökonomisc­hen Nachweis liefern, dass die App auch einen Sinn hat“, sagt Kamps. Neun Leute arbeiten derzeit an dem Produkt, hinzu kommen viele Unterstütz­er. Viel Enthusiasm­us und zusätzlich­e Einsatzber­eitschaft bringen seine Mitarbeite­r mit, um die App weiterzuen­twickeln. Wenn alles klappt, könnte Patchie Ende des Jahres von erkrankten Kindern, ihren Eltern und Ärzten genutzt werden.

Dass es im Gesundheit­smarkt „hart zur Sache geht“, bestätigt auch Jörg Land, der Macher der TinnitusAp­p. „Die Zertifizie­rung allein reicht nicht aus, um ins System reinzukomm­en“, sagt er. Erfolg hat der, der mit einem überzeugen­den Konzept die Krankenkas­sen gewinnen kann, da diese für ihre Versichert­en die Kosten übernehmen können. Genauso wichtig sind die Ärzte. „Wer Medizinpro­dukte entwickelt, braucht das Vertrauen der Ärzte“, so Land. Schließlic­h müssen sie ihre Patienten in der Therapie begleiten. Beides hat Land mit seinem Produkt geschafft. Er ist einer von wenigen.

„Wer Medizinpro­dukte entwickelt, braucht das Vertrauen der Ärzte.“ Jörg Land, Chef von Sonormed

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FOTO: DPA Durchbruch geschafft: Bundesweit nutzen bereits etliche Notfalldie­nste die App „Mobile Retter“. Auf der Plattform können sich Menschen mit medizinisc­her Qualifikat­ion registrier­en lassen, um im Notfall als Ersthelfer Hilfe zu leisten, bis der...
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FOTO: HEIDECKER Viele Apps werden für den zweiten Gesundheit­smarkt entwickelt, da die Zugangshür­den dort nicht so hoch sind.

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