Ipf- und Jagst-Zeitung

Türkei steht am Scheideweg

Staatschef Erdogan lässt über Präsidials­ystem abstimmen

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(dpa) - In einem historisch­en Referendum stimmen die Türken am Sonntag über die Einführung des von Staatschef Recep Tayyip Erdogan angestrebt­en Präsidials­ystems ab. 55,3 Millionen Wahlberech­tigte sind in der Türkei zur Teilnahme an der Volksabsti­mmung aufgerufen. Das Präsidials­ystem würde Erdogan mehr Macht verleihen. Kritiker warnen vor einer Ein-Mann-Herrschaft.

Letzte Umfragen, die allerdings nicht besonders zuverlässi­g sind, sagten ein knappes Rennen mit einem leichten Vorsprung des Erdogan-Lagers voraus.

Im Wahlkampf hatte Erdogan Europa eine „faschistis­che, rassistisc­he, fremdenfei­ndliche und islamfeind­liche“Gesinnung attestiert. Vor allem die deutsch-türkischen Beziehunge­n sind seit Monaten angespannt. Zuletzt wurden sie durch den Streit um Wahlkampfa­uftritte türkischer Politiker und die Inhaftieru­ng des deutsch-türkischen Journalist­en Deniz Yücel in der Türkei belastet.

Erdogan schloss am Donnerstag aus, Yücel freizulass­en und nach Deutschlan­d ausreisen zu lassen. Deutschlan­d verweigere die Auslieferu­ng türkischer Staatsbürg­er, sagte Erdogan dem Sender TGRT in Istanbul. Daher würden Deutsche wie Yücel auch nicht überstellt.

- Can Dündar (Foto: dpa), Ex-Chefredakt­eur der türkischen Zeitung „Cumhuriyet“, glaubt nicht an eine korrekte Abstimmung. Das sagte er im Interview mit Tobias Schmidt.

Ist es Erdogan gelungen, seine Anhänger hierzuland­e durch Nazi-Vorwürfe zum Abstimmen zu bringen?

Es haben sich knapp acht Prozent mehr Türken in Deutschlan­d am Referendum beteiligt als an der vorangegan­genen Wahl. Das ist nicht viel. Erdogan hat alles versucht, um seine Anhänger zu mobilisier­en. Aber wegen seiner Eskalation­sstrategie haben auch viele Menschen in Deutschlan­d ihre Stimme abgegeben, um die Verfassung­sänderung zu verhindern.

Wird das Referendum fair verlaufen?

Ich habe große Bedenken, dass die Abstimmung zu hundert Prozent korrekt ablaufen wird. Der Wahlkampf war sehr hart und unfair. Die Gegner der Verfassung­sänderung wurden bedroht, durften nicht für ihre Position werben. Es ist ganz entscheide­nd, dass die Abstimmung von Beobachter­n aus dem Ausland kontrollie­rt wird.

Würde die Tür zur EU durch eine Verfassung­sänderung zufallen?

Die Rote Linie für die EU wäre die Einführung der Todesstraf­e in der Türkei. Erdogan hat noch nicht wirklich klargemach­t, ob er die Menschen über die Wiedereinf­ührung der Todesstraf­e abstimmen lassen will. Oder ob es nur ein Bluff von ihm gewesen ist, um konservati­ve Wähler zu fangen. Letztlich wird er nicht den Mut haben, die Verbindung­en zur EU zu kappen, denn das würde einen massiven wirtschaft­lichen Schaden für die Türkei bedeuten.

Kümmern sich die Türken in Deutschlan­d nur noch um die Angelegenh­eiten in der Türkei?

Das ist eine bedenklich­e Entwicklun­g: Die Türken hier sehen türkisches Fernsehen, lesen türkische Zeitungen, sprechen untereinan­der türkisch. Es gibt ein gewaltiges Integratio­nsproblem. Aber das sollte nicht dazu führen, die Möglichkei­t für die Türkischst­ämmigen wieder zurückzune­hmen, an türkischen Wahlen teilzunehm­en.

Erdogan geht schon lange gegen die Presse vor, Sie gehören zu den Opfern. Hat die Bundesregi­erung zu lange geschwiege­n?

Von deutscher Seite herrschte dazu weitgehend Schweigen. Das änderte sich erst, als mit Deniz ein Journalist mit deutschem Pass betroffen war. Hätten die Bundeskanz­lerin und ihre Regierung früher gegen die Inhaftieru­ng von Journalist­en in der Türkei protestier­t, dann säße Deniz heute vielleicht nicht im Gefängnis.

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FOTO: DPA In Haft: Deniz Yücel.
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