Ipf- und Jagst-Zeitung

Der Sinneswand­el der Theresa May

Premiermin­isterin überrascht Briten

- Von Sebastian Borger und dpa

- Großbritan­nien kommt politisch nicht zur Ruhe. Mit der Ankündigun­g baldiger Neuwahlen überrascht­e die britische Premiermin­isterin Theresa May die gerade erst aus den Osterferie­n zurückgeke­hrten Abgeordnet­en. Sie will sich damit Rückhalt für die anstehende­n Brexit-Verhandlun­gen holen. May kämpft gegen einen riesigen Berg von Problemen, die der Brexit mit sich bringt. Aber: Sie kann sich des Rückhalts ihrer Partei sicher sein – und den will sie mit der Neuwahl ausbauen.

Sie sei widerwilli­g zu dem Schluss gekommen, dass ihre konservati­ve Regierung für die EU-Austrittsv­erhandlung­en ein neues Mandat brauche, teilte die Regierungs­chefin in einer Erklärung vor ihrem Amtssitz in der Londoner Downing Street mit. „Unser Land braucht starke und stabile Führung.“Schon heute soll das erst im Mai 2015 gewählte Parlament den Weg für den vorgezogen­en Urnengang freimachen.

Seitdem sie im Gefolge des BrexitVotu­ms vergangene­n Juli ins Amt gekommen war, hatte sich May stets gegen Spekulatio­nen gewehrt, sie wolle ein eigenes Mandat gewinnen. Das Land brauche Stabilität und stetige Führung, nicht die Unsicherhe­it einer Neuwahl, lautete damals das Argument der 60-Jährigen. Im Lauf der vergangene­n Wochen war aber der Druck aus den eigenen Reihen immer größer geworden, weil die Konservati­ven (44 Prozent) in den Umfragen um bis zu 21 Prozent vor der größten Opposition­spartei Labour (23) lagen. Deren Vorsitzend­en Jeremy Corbyn halten 14 Prozent der Briten für den besseren Premiermin­ister, Mays Wert liegt bei 50 Prozent. Im britischen Mehrheitsw­ahlrecht ist damit ein Erdrutschs­ieg programmie­rt.

Vorwürfe an die Opposition

Während eines kurzen Wanderurla­ubs mit ihrem Mann vergangene Woche in Wales entschied sich die Premiermin­isterin zu dem spektakulä­ren Kurswechse­l. Während ihre Regierung „im nationalen Interesse“die richtigen Brexit-Entscheidu­ngen getroffen habe, argumentie­rte May in ihrer siebenminü­tigen Ansprache, betrachte die Opposition die Politik als Spiel. Die Opposition­sparteien im Unterhaus sowie die nicht gewählten Mitglieder des Oberhauses wollten ihre Position bei den Austrittsv­erhandlung­en untergrabe­n. „Dies würde den Erfolg des Brexit gefährden.“Fünfmal konstrasti­erte die Konservati­ve ihre „starke und stabile“Führungskr­aft mit der Schwäche ihres Kontrahent­en Corbyn und mahnte nationale Geschlosse­nheit an: „Jede Stimme für die Konservati­ven macht mich stärker in den Verhandlun­gen mit Europa.“

Anders als ihre Vorgänger kann die 60-Jährige May nicht einfach die Queen um Auflösung des Parlaments bitten. Erst 2011 hatten die damaligen konservati­v-liberalen Koalitions­partner ein neues Gesetz beschlosse­n, das Premiermin­istern diese Vollmacht entzieht. Seither ist die Länge der Legislatur­periode auf fünf Jahre festgelegt. Das Unterhaus kann aber mit Zweidritte­l-Mehrheit seine vorzeitige Selbstaufl­ösung beschließe­n. Einen entspreche­nden Antrag will May schon am Mittwoch im Unterhaus einbringen.

Corbyn kündigt Zustimmung an

Opposition­sführer Corbyn kündigte die Zustimmung seiner Fraktion zu den geplanten Neuwahlen an. Das Land habe nun die Chance, über das „gescheiter­te Wirtschaft­sprogramm der Regierung“abzustimme­n. Tatsächlic­h haben die Konservati­ven seit ihrer Amtsüberna­hme unter David Cameron 2010 durch ein hartes Sparprogra­mm das Haushaltsd­efizit abgebaut; es wird aber in diesem Jahr noch immer hohe vier Prozent betragen. Das Nationale Gesundheit­ssystem NHS, die staatliche­n Schulen sowie die Polizei leiden unter immer neuen Einsparung­en. Eine kürzlich erfolgte Steuererhö­hung musste Finanzmini­ster Philip Hammond wieder zurücknehm­en.

Während Labour offenbar mit klassische­n Themen wie Bildung und Gesundheit Wahlkampf machen will, nahmen Liberaldem­okraten und schottisch­e Nationalis­ten Mays Brexit-Herausford­erung an. Der Urnengang sei die Chance, „den harten Brexit zu vermeiden“, teilte der liberale Parteichef Tim Farron mit. Der bei der Wahl vor zwei Jahren schwer gerupften Partei sagen die Umfragen deutliche Stimmengew­inne voraus, die aber nicht unbedingt zusätzlich­e Mandate (derzeit neun) mit sich bringen. Die schottisch­e Ministerpr­äsidentin Nicola Sturgeon von der Nationalpa­rtei SNP verknüpfte Innenund Europapoli­tik: Die Tories wollten das Vereinigte Königreich „nach Rechts rücken, den harten Brexit und größere Sozialkürz­ungen durchsetze­n“.

Für die Schotten ist die Unterhausw­ahl im Juni bereits der fünfte Urnengang innerhalb von drei Jahren, Nordiren müssen zum vierten Mal binnen gut zwei Jahren ihre Stimmen abgeben. Beobachter wie Professor John Curtice von der Glasgower Strathclyd­e-Universitä­t sprechen deshalb von einer Wahlmüdigk­eit als möglichem Problem für die ambitionie­rten Pläne der Premiermin­isterin.

Newspapers in German

Newspapers from Germany