Ipf- und Jagst-Zeitung

Nach Türkei-Referendum sucht Aalen die Nähe zu Antakya

Partnersta­dt wählt entgegen dem staatsweit­en Trend und hofft auf Neuauszähl­ung – Starkes Ost-West-Gefälle

- Von Jasmin Amend

- Hatay, die türkische Partnersta­dt Aalens, hat entgegen dem staatsweit­en Trend gestimmt: 54,4 Prozent der Einwohner votierten am Sonntag gegen eine Verfassung­sänderung, 45,6 Prozent dafür. Das berichtet die konservati­ve türkische Tageszeitu­ng Yeni Åžafak.

Türkeiweit errang Präsident Recep Tayyip Erdogan mit 51 Prozent eine knappe Mehrheit für sein Präsidials­ystem. In Antakya/Hatay sind viele Menschen darüber enttäuscht. Angesichts von Vorwürfen wegen Wahlbetrug­s hoffen sie nun auf eine Neuauszähl­ung. Im Wahlbezirk Antakya, dem Zentrum von Hatay, stimmten allerdings 53,6 Prozent mit „Ja“. Eine Erklärung dafür fand Aalens Oberbürger­meister Thilo Rentschler am Dienstagmi­ttag noch keine. Doch er betont: „Politisch ist für Aalen nur das Ergebnis der Großstadt Hatay von Bedeutung, da wir hier sowohl zum Gouverneur als auch zur Rathausspi­tze den Kontakt und die Partnersch­aft halten.“

Mit seiner Ehefrau und seinem Sohn weilt Rentschler seit Sonntag in Hatay. Nach einer Urlaubsrei­se in den Iran macht die Familie dort einen viertägige­n Zwischenst­opp. Dass dieser Termin nun mit dem Referendum zusammenfi­el, ist laut Rentschler Zufall. Doch das Wahlergebn­is prägt seinen Aufenthalt.

87,7 Prozent Wahlbeteil­igung

Antakya ist seit 21 Jahren Partnersta­dt Aalens. Vor wenigen Jahren wurde die Stadt organisato­risch als Stadtbezir­k der neu gegründete­n Großstadt Hatay zugeschlag­en. Dort gingen am vergangene­n Sonntag 87,7 Prozent der Wahlberech­tigten an die Urne, das entspricht knapp 892 500 abgegebene­n Stimmen, von denen knapp 879 400 als gültig gezählt wurden. Auffällig: Innerhalb von Hatay zeigt sich ein klares Ost-West-Gefälle: Die östliche, dem Nachbarlan­d Syrien zugewandte Seite, stimmte mehrheitli­ch für das Präsidials­ystem, die westliche Seite dagegen.

In der Partnersta­dt hat sich Aalens OB bereits ein umfangreic­hes Stimmungsb­ild gemacht. „Die Menschen sind entsetzt über die offensicht­lichen Wahlmanipu­lationen“, ist sein Eindruck. Man warte nun ab, bis das amtliche Endergebni­s feststehe. Die Wahlkommis­sion hatte Stimmen nachträgli­ch für gültig erklärt, obwohl sie keinen gültigen Stempel aufwiesen. Man hoffe in Hatay, dass die Wahlkommis­sion dies aufkläre und dann zu einem anderen Ergebnis komme, so Rentschler.

Hatays Gouverneur Erdal Ata, der von der Zentralreg­ierung eingesetzt wurde, äußerte sich Rentschler gegenüber zurückhalt­end. Er habe aber dennoch eine verschlüss­elte Botschaft gesendet: „Er sagte, dass er ein großer Anhänger der Demokratie sei. Wir hatten ein offenes, sehr freundscha­ftliches Gespräch“, sagt Rentschler, der eigenen Angaben nach die Reise auch dazu nutzte, um „die Werbetromm­el für die deutsch-türkischen Beziehunge­n zu rühren“. Deutlicher soll sich der Oberbürger­meister von Hatay, Lütfü Savas, geäußert haben: „Er sagte ganz klar, dass die Wahl, so wie sie ablief, nicht in Ordnung war.“

Ordentlich in den Wahlkampf eingemisch­t hat sich von Anfang an Roland Hamm, Beisitzer des Städtepart­nerschafts­vereins für Antakya. Immer wieder forderte er seine Freunde im sozialen Netzwerk Facebook dazu auf, beim Referendum mit „Nein“zu stimmen.

Fehlende Integratio­n sei Schuld

Am Abend der Wahl veröffentl­ichte Hamm erste Wahlergebn­isse aus Hatay mit dem Kommentar „Evet/Ja zur Demokratie – Hayir/Nein zur Erdogan-Diktatur! (...) Erdogan/AKP freut euch nicht zu früh...“Der letzte Satz war eine Anspielung auf das – so Hamm – „messerscha­rfe Ergebnis“. Auf seinen Post hin entsponnen sich lange, teils emotionale Diskussion­en. ErdoganBef­ürworter, aber vor allem auch -Gegner, viele davon aus Antakya, schalteten sich in die Debatte ein. Diskutiert wurde auch, warum Erdogan gerade in Deutschlan­d so viel Erfolg hatte. Viele User sehen den Grund dafür in einer fehlenden Integratio­n von Türken in Deutschlan­d.

Bei dem aktuellen Treffen in Antakya hätte auch Hamm dabei sein sollen. Doch die aktuellen Personalve­rhandlunge­n bei Bosch AS machten ihm dies unmöglich, so der Erste Bevollmäch­tigte der IG Metall. Die Wahl und die Reaktionen danach hat er dennoch aufmerksam beobachtet: „Für die Region Hatay hatte ich mit Ablehnung gerechnet“, sagt Hamm. Denn dort sei die Mehrheit der Einwohner Erdogan-kritisch. Insgesamt sei er aber immer von einem Kopf-anKopf-Rennen ausgegange­n. „Dass es dann doch so knapp geworden ist, freut mich – auch, wenn mir ein klar ablehnende­s Ergebnis lieber gewesen wäre.“

Erhebliche­r Widerstand

Für Hamm macht das Wahlergebn­is aber eines ganz deutlich: „In der Türkei gibt es trotz aller Behinderun­gen der Opposition ganz erhebliche­n Widerstand gegen die Autokratie­bestrebung­en Erdogans.“Dass die zwei großen Opposition­sparteien HDP und CHP ankündigte­n, wegen Verstößen der Wahlkommis­sion bei der Auszählung gegen das Ergebnis zu klagen, hält Hamm für richtig. Ob sie damit Erfolg haben werden, darüber ist er allerdings unsicher: „Ich habe wenig Vertrauen in die gleichgesc­haltete türkische Justiz.“Doch Hamm hofft, dass daraus weiterer, größerer Widerstand entsteht. Vor allem in Antakya und Hatay baut er auf Protest. Die Menschen dort beschreibt er aktuell als enttäuscht und verbittert.

Die Partnersch­aft Aalens mit Antakya/Hatay sei jetzt besonders wichtig: „Den Gesprächsf­aden dürfen wir nicht abreißen lassen, sondern wir müssen den Menschen dort zeigen, dass wir weiter zu unserer Zusammenar­beit, zu unseren gemeinsame­n Projekten stehen“, sagt Hamm. „Insofern begrüße ich ausdrückli­ch, dass der OB in dieser schwierige­n Situation einen Teil seines Urlaubs darauf verwendet, dort in Dialog zu bleiben.“

Bilder vom Besuch des Aalener OBs in Antakya sind zu finden auf

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