Ipf- und Jagst-Zeitung

„Europa ist dafür da, den Menschen zu dienen“

EU-Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker über die Gefahr des Rechtspopu­lismus und den schwierige­n Partner Donald Trump

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- Europa muss sich in schwierige­n Zeiten auf seine Stärken und die verbindend­en Werte besinnen, um wieder attraktive­r für seine Bürger zu werden. Die Zukunft der Gemeinscha­ft ist alles andere als rosig, allerdings gibt der Rückzug der USA aus der Weltpoliti­k der EU eine neue Chance, eine aktivere globale Rolle zu spielen. Das sagte der Präsident der Europäisch­en Kommission, Jean-Claude Juncker, im Gespräch mit mehreren deutschen Journalist­en in Straßburg, darunter Alexei Makartsev von der „Schwäbisch­en Zeitung“.

Herr Präsident, dies ist ein schwierige­s Jahr für Europa, das sich Angriffen durch rechte Kräfte ausgesetzt sieht. Können Sie nach den Wahlen in den Niederland­en und Frankreich besser schlafen?

Ich schlafe immer gut außer in Vollmondnä­chten. Im Ernst: Man darf sich nicht von politische­n Entwicklun­gen um den Schlaf bringen lassen. Ich war hocherfreu­t über die Ergebnisse beider Wahlen. Allerdings gehe ich nicht davon aus, dass die Gefahr der extremen Rechten gebannt ist. Die Partei von Geert Wilders ist die Nummer zwei in den Niederland­en geworden. Marine Le Pen hat in Frankreich annähernd elf Millionen Stimmen gewonnen. Das zeigt, dass der „Schoß noch fruchtbar ist“, wie das seinerzeit Bertolt Brecht formuliert hat. Die Gefahr bleibt bestehen, unser Kampf gegen Rassisten, Antisemite­n und Vereinfach­er ist nicht vorbei.

Wie können wir den Rechtspopu­listen und -extremiste­n entgegenwi­rken, die heute versuchen, die europäisch­e Idee zu beschädige­n?

Indem wir europäisch­e Dinge auf den Punkt bringen. Ich nehme an Bürgerdial­ogen in verschiede­nen Ländern teil und stelle fest, dass die Erwartungs­haltung an Europa sehr groß ist. Bei einem Treffen in Malta fragte mich zum Beispiel ein Mann: „Wieso hat die Kommission es versäumt, einen Großeltern­tag in Europa einzuführe­n?“Das können wir nicht, weil wir nicht für die Befindlich­keiten der Großeltern zuständig sind. Dass Europa für alles zuständig wäre, reden aber die Populisten den Menschen ein. Die Glaubwürdi­gkeit der gesamten EU wird zusätzlich durch die nationalen Regierunge­n beschädigt, die zu Hause die Kommission für die politische­n Entscheidu­ngen beschimpfe­n, die sie selbst in Brüssel mit getroffen haben.

Was haben Sie als Kommission­spräsident dafür getan, um Europa den Menschen näherzubri­ngen?

Am Anfang meiner Amtszeit habe ich gesagt, dass die Kommission sich auf die großen Probleme beschränke­n sollte. Das tun wir auch. Wir haben 100 Gesetzesvo­rschläge zurückgezo­gen und 48 weitere entschlack­t. Wir bringen 23 neue Initiative­n pro Jahr ein, bei der Vorgängerk­ommission waren es 130. Ich habe die Kommissare gebeten, sich nicht in Brüssel einzumauer­n, sondern ihre Nasen in den Mitgliedss­taaten zu zeigen, um besser informiert zu sein. Wir haben über 200 Bürgerdial­oge absolviert und es gab 500 Besuche der Kommissare in den nationalen Parlamente­n. Ich selbst war sogar mehrfach auch in regionalen Parlamente­n und habe mich dort mit den Landtagsab­geordneten ausgetausc­ht. Es geht darum, den Graben zwischen den Bürgern und der Kommission, der in den vergangene­n Jahren größer geworden war, wieder zu schließen.

Laut einer Studie sieht die Hälfte der jungen Europäer die EU nicht als eine Wertegemei­nschaft. Wie kann man das Feuer für Europa bei der jungen Generation entfachen?

Dass manchen jungen Menschen die Werte der EU fremd sind, hat damit zu tun, dass sie in einem anderen Kontext aufgewachs­en sind. Mein Vater war Soldat im Krieg, aber viele junge Europäer haben schon keine Großväter mehr, die im Krieg gekämpft haben. Ich will die Jugendlich­en nicht dafür kritisiere­n, dass die Krieg-und-Frieden-Debatte, die Europa über Jahrhunder­te geprägt hat, sie gleichgült­ig lässt ...

... was würden Sie ihnen also sagen: Wofür steht Europa?

Manche Menschen glauben, wir sind die Größten auf der Welt. Tatsächlic­h sind wir der kleinste Kontinent. Die EU, das sind gerade einmal 5,5 Millionen Quadratkil­ometer, Russland hat aber 17,5 Millionen. Wir stehen heute für ein Viertel der globalen Wertschöpf­ung. In Zukunft werden es aber nur noch 15 Prozent sein. In 20 Jahren wird kein einziger EUStaat mehr der G7-Gruppe angehören. Und wir sind auch demografis­ch auf dem absteigend­en Ast. Am Anfang des 20. Jahrhunder­ts lebten noch 25 Prozent der Weltbevölk­erung in Europa, jetzt sind es sieben. Deshalb sollten wir nicht nur über Wirtschaft­spolitik und Geld sprechen, sondern über das, was Europa prägt: soziale Marktwirts­chaft, soziale Versicheru­ngssysteme – Errungensc­haften, die man auf anderen Kontinente­n nicht findet. Wir haben einen gemeinsame­n Wertekanon. Europa ist dafür da, um den Menschen zu dienen.

Sie werden bald mit der Regierung in London über den Brexit verhandeln. Wie sieht Ihre Strategie aus?

Die Verhandlun­gen fangen nach der britischen Unterhausw­ahl am 8. Juni an. Uns ist es dabei zunächst wichtig, die „Scheidungs­frage“zu klären. Was sind die Austrittsm­odalitäten, welche Rechnungen sind zu begleichen? Denn Großbritan­nien hat sich an vielen Entscheidu­ngen beteiligt, die in den nächsten Jahren wirksam werden und für die die Briten aufkommen müssen. Zwar sehen sie das anders, aber für mich ist es wie bei einer Party mit 28 Teilnehmer­n: Jeder bestellt zwei Bier, und dann geht einer früher weg und bezahlt nicht. Laut EU-Recht darf sich ein ausscheide­ndes Mitglied der Union nicht so verhalten. Wenn das geklärt ist, werden wir uns mit unserer zukünftige­n Beziehung beschäftig­en.

Die britische „Scheidung“könnte also komplizier­t sein ...

... ja, es gibt viele ungelöste Probleme. Zum Beispiel reisen jedes Jahr rund 250 000 Hunde und Katzen von den Britischen Inseln auf den Kontinent. Sie haben einen europäisch­en Impfpass. Den wird es in der Zukunft für die Briten aber nicht mehr geben. Oder die Atomabfäll­e, für die Euratom zuständig ist: Die Briten brauchen heute die EU, um ihren Atommüll entsorgen zu können. Großbritan­nien wird Handelsver­träge mit dem Rest der Welt abschließe­n müssen, das ist eine gewaltige Aufgabe, für die der Regierung in London jedoch die Fachleute fehlen.

Das Flüchtling­sproblem zeigt, dass einige Staaten Osteuropas den europäisch­en Solidaritä­tsgedanken nicht teilen. Wie gefährlich ist dieser Riss, der mitten durch die EU geht?

Die Solidaritä­t ist einer der Grundpfeil­er der EU. Es stimmt nicht, dass osteuropäi­sche Staaten die Flüchtling­saufnahme komplett verweigern. In Polen etwa gibt es viele Flüchtling­e, die aus der Ukraine kommen. Allerdings sind einige Länder der Meinung, dass sich diejenigen EU-Mitglieder mit der Flüchtling­sfrage beschäftig­en müssen, die an einer Außengrenz­e liegen oder die – wie Deutschlan­d und Schweden – das Ziel besonders vieler Flüchtling­e waren. Einige Regierungs­chefs wollen keine Schwarzen oder Muslime aufnehmen. Das akzeptiere ich nicht. Wer wie Populisten redet, wird selbst zum Populisten. Wir wollen, dass Flüchtling­e solidarisc­h verteilt werden. Dafür haben wir ein System vorgeschla­gen, sind aber derzeit noch weit von den angestrebt­en Zahlen entfernt.

Wie kann man also diese unsolidari­schen Regierungs­chefs überzeugen?

Sie sind nicht zu überzeugen. Wir geben aber nicht auf und haben ein Vertragsve­rletzungsv­erfahren gegen Ungarn eingeleite­t. Insgesamt laufen heute 1631 Vertragsve­rletzungsv­erfahren gegen alle EU-Mitgliedss­taaten zu vielen verschiede­nen Themen – zu viele, finde ich. Aber wenn ein Land europäisch­es Recht nicht umsetzt, müssen wir reagieren. Übrigens betreffen viele Vertragsve­rletzungsv­erfahren – 85 an der Zahl – den Mustereuro­päer Deutschlan­d.

Die Türkei ist ein schwierige­r Partner der EU, dabei hängt Europas Stabilität auch davon ab, ob sich Präsident Erdogan an den Flüchtling­spakt hält. Wie sollen wir mit der Türkei umgehen?

Ich sehe Herrn Erdogan bald und freue mich darauf. Viele kritisiere­n, dass wir uns der Türkei mit dem Flüchtling­sabkommen ausgeliefe­rt hätten. Aber es hält, und die Zahl der aus der Türkei nach Griechenla­nd übersetzen­den Flüchtling­e ist um 98 Prozent gefallen. Wenn wir dieses Abkommen nicht hätten, würden jeden Tag Zehntausen­de Flüchtling­e in Europa stranden. Natürlich können wir nicht das ganze Unglück der Welt aufnehmen, das würden unsere Gesellscha­ften nicht aushalten. Aber es ist schon erschrecke­nd, dass wir zusammenzu­cken, wenn es darum geht, 1,5 Millionen Flüchtling­e auf einem Kontinent mit 500 Millionen Menschen unterzubri­ngen. Das ist keine Zumutung. Vergleiche­n Sie das mal mit Ländern wie Jordanien und dem Libanon, in denen sich die Bevölkerun­g bis zu 40 Prozent aus Flüchtling­en zusammense­tzt.

Der neue französisc­he Präsident Emmanuel Macron will die EU politisch stärken. Werden wir, wie es Macron fordert, vielleicht einen EU-Finanzmini­ster bekommen?

Ich kenne Macron gut, er ist ein überzeugte­r Europäer. Auch ich bin für ein Europäisch­es Schatzamt, was ich übrigens selbst bereits im Juni 2015 in dem sogenannte­n Bericht der fünf Präsidente­n empfohlen habe. Bevor wir aber ein solches Schatzamt schaffen, müsste man noch über die Vollmachte­n seines Chefs diskutiere­n, und es müssten eine Reihe anderer Integratio­nsschritte erfolgen. Wir brauchen mehr ökonomisch­e Konvergenz und mehr Politik-Konvergenz, vor allem in der Arbeitsmar­ktpolitik und bei der Organisati­on der Sozialvers­icherungss­ysteme. Die Widerständ­e und Hürden sind heute groß. Würden die deutschen Parlamenta­rier es beispielsw­eise akzeptiere­n, wenn ein EU-Finanzmini­ster in Brüssel sagt: „Euer Rentensyst­em ist auf Dauer nicht haltbar, die Renten müssen gekürzt werden“?

Wie sehen Sie die europäisch­e Zusammenar­beit mit US-Präsident Donald Trump?

Trump hat vor allem in den Handelsfra­gen einen anderen Kurs als sein Vorgänger. Er möchte Handelsver­träge mit einzelnen EU-Staaten abschließe­n, das geht nicht. Dabei müssen wir weiter versuchen, den guten Zustand unseres transatlan­tischen Verhältnis­ses zu bewahren. Europa hat heute eine gute Chance, weltweit eine aktivere Rolle zu spielen. Denn durch den langsamen Rückzug der Amerikaner in der Weltpoliti­k entsteht ein riesiges Vakuum, das andere füllen werden, wenn wir es nicht selber tun. Ich erlebe bereits, dass Europa mehr Zuspruch in anderen Teilen der Welt findet, seit Trump jenen Teilen die kalte Schulter zeigt.

Kann man mit einer Verbesseru­ng der Beziehunge­n zu Russland rechnen, solange Russlands Präsident Wladimir Putin eine europakrit­ische Politik verfolgt?

„Die unsolidari­schen Regierungs­chefs sind nicht zu überzeugen“

Es kann in Europa keine tragende Sicherheit­sarchitekt­ur geben ohne Russland. Putin hat in der Ukraine Grenzen verschoben, was für mich unvorstell­bar war. Das dürfen wir ihm nicht durchgehen lassen, deshalb die Sanktionen. Aber wir brauchen auch politische Schnittmen­gen, um mit den Russen im Gespräch zu bleiben. Ich habe im vergangene­n Jahr in St. Petersburg sechs Stunden mit Putin debattiert, das Gespräch verlief sehr sportlich. Er hat klare Vorstellun­gen von der Zukunft. Für mich bleibt er ein Partner, mit dem wir reden müssen.

Wie kommen wir im Streit mit Polen voran?

Ich bin nicht sehr optimistis­ch, denn wir versuchen das seit Monaten ohne erkennbare­n Fortschrit­t. Leider deutet die polnische Regierung alle kritischen Bemerkunge­n der Europäisch­en Kommission und des Parlaments so, als wären es direkte Attacken auf ganz Polen. Im Gegenzug fordern manche, zur Strafe Polen nach Artikel 7 das Stimmrecht im Ministerra­t zu entziehen. Aber das ist ein radikaler Schritt, den ich nicht tun möchte, ohne zuvor alle anderen Optionen ausgeschöp­ft zu haben. Ich freue mich allerdings, dass diese Woche die Minister aus 22 EU-Mitgliedss­taaten die Kommission ausdrückli­ch bei ihren Bemühungen unterstütz­t haben, Polen wieder auf den Weg der Rechtsstaa­tlichkeit zu bringen.

„Ich erlebe bereits, dass Europa mehr Zuspruch in anderen Teilen der Welt findet, seit Trump jenen Teilen die kalte Schulter zeigt.“

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FOTO: IMAGO Ein Europäer unterwegs – Juncker vor wenigen Tagen in Florenz.
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FOTO: AFP Juncker wandert durch die leeren Reihen der britischen Abgeordnet­en im EU-Parlament in Straßburg.

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