Ipf- und Jagst-Zeitung

Der Schritt von Köln soll nicht der letzte bleiben

Selbstkrit­ische Töne nach dem WM-Aus zeugen von gehobenen Ansprüchen – In der Weltrangli­ste jetzt Achter

- Von Joachim Lindinger

- Dennis Seidenberg hatte 25 Minuten und neun Sekunden Schwerstar­beit hinter sich. Leer jetzt sein Blick, Schweißper­len rinnen von der kahlen Stirn in Richtung Vollbart. Dennis Seidenberg ist der Eishockeys­pieler gewordene Frust. „Wir haben zu viele Leichtsinn­sfehler gemacht“, sagt der Verteidige­r mit den 900 NHL-Einsätzen in Kameras und Mikrofone, „wir waren nicht konzentrie­rt genug in unserem Aufbauspie­l. Wenn wir besser gespielt hätten, wäre mehr drin gewesen.“Mehr als ein 1:2 (0:1, 0:1, 1:0) gegen den 26-maligen Weltmeiste­r Kanada, gegen das dominieren­de Team im Welteishoc­key der vergangene­n beiden Jahre? Die Momentaufn­ahme nach dem verlorenen Viertelfin­ale zeigt: Die Ansprüche haben sich geändert bei der deutschen Nationalma­nnschaft. Als Weltrangli­stenzehnte­r ist sie in die Heim-WM gegangen, WM-Achter ist sie geworden, zwei Plätze hat sie dadurch auch im Ranking der Internatio­nal Ice Hockey Federation gutgemacht. Und, so bilanziert Bundestrai­ner Marco Sturm: „Wir wollten den nächsten Schritt gehen, das haben wir im Lauf des Turniers getan. Aber unsere Reise ist noch nicht vorbei.“

Kanada 2017 also soll nur Etappe gewesen sein. Eine, auf der sich Dennis Seidenberg und Kollegen mitnichten so durchwachs­en aus der Affäre zogen, wie der 35-jährige Villinger es gesehen hatte. Leidenscha­ft und Wille sind noch nie ein Manko im deutschen Spiel gewesen, beeindruck­end aber, wie in der defensiven Zone gearbeitet, wie auf den Körper gespielt und kein Check ausgelasse­n wurde. Wie Räume eng gemacht wurden und Schüsse (fast) nur von außen erlaubt. Der Game-Plan, die Strategie, die Marco Sturm mit den Co-Trainern Geoff Ward und Tobias Abstreiter entwickelt hatte, griff. Kanada dominierte, baute Druck auf, suchte den Abschluss. Und fand, lange Zeit, bestenfall­s Philipp Grubauer. 48 Schüsse sollte der 25-Jährige von den Washington Capitals bis zur Schlusssir­ene parieren; Jon Cooper, beim Titelverte­idiger sportliche­r Richtlinie­ngeber, lobte: „Er ist ein sehr starker Torhüter. Er sieht nicht nur jeden Puck und ist immer in der richtigen Position, er schluckt auch jeden Schuss und gibt einem kaum Rebounds.“Das kann zehren an Stürmerner­ven. Kann. Claude Giroux, Ryan O'Reilly, Matt Duchene und, und, und ... allerdings blieben kühl, geduldig. Gegen allen Widerstand. Bei 48 Prozent lag die Erfolgsquo­te kanadische­n Überzahlsp­iels nach den sieben Gruppenpar­tien, das 0:1 durch Mark Scheifele zeigte, weshalb. Das 0:2 ging a conto Jeff Skinner; Philipp Grubauer („Es ist mein Job, die Scheiben zu halten, egal wie viele auf mein Tor kommen“) haderte da ziemlich mit sich selbst: „Ein bisschen ärgerlich!“Dazu kam jetzt, 112 Sekunden vor der zweiten Pause, eine bittere Erkenntnis: Nach vorne gab es eine Marschrout­e zwar in der Theorie, an der Umsetzung aber haperte es. Genau einmal flog das Spielgerät im Mitteldrit­tel aufs kanadische Tor.

Viel Arbeit wartet noch

Im Schlussabs­chnitt war das anders. Yannic Seidenberg­s Unterzahlt­reffer nach Klassepass von Kapitän Christian Ehrhoff veredelte das Ausscheide­n zu einem 1a-Ausscheide­n; zu mehr reichte es in den letzten 6:39 Minuten nicht mehr. Kanada kontrollie­rte Spielgerät und Gegner fortan so, dass ein sechster deutscher Feldspiele­r noch für genau zehn Sekunden aufs Eis konnte. Ohne Effekt.

Diese offensive Ohnmacht wurmte. Kollektiv. Auch wenn man wusste, wer einen da ausgebrems­t hatte, wenn das 0:10 von Prag 2015 und das 2:5 von St. Petersburg 2016 in manchem Hinterkopf waren. Und wenn offensicht­lich gewesen ist, was Christian Ehrhoff so formuliert­e: „Über das gesamte Spiel gesehen muss man sagen, dass es – was Technik und Schlittsch­uhlaufen betrifft – ein Qualitätsu­nterschied war.“Den Gegner schlechter machen kann man nicht, wohl aber das eigene Bemühen verbessern. Marco Sturm sprach folglich noch einmal die Treue zum vorgegeben­en System an, Stichwort Umschaltsp­iel: „Es ist leider zu oft noch so, dass der ein oder andere doch noch andere Wege geht, als es verlangt ist.“Da bleibe, auch (oder: gerade) im Liga-Alltag, einiges zu tun.

Die Arbeit wird dem Bundestrai­ner nicht ausgehen. Olympia in Pyeongchan­g ist die nächste Aufgabe, danach die WM 2018 in Dänemark. „Es wird nicht langweilig“, prognostiz­iert Marco Sturm. Wieder nicht, ließe sich nach einer Heim-Weltmeiste­rschaft ergänzen, die seine Mannschaft stark begann, ehe sie wackelte, sich wieder fing und letztlich mächtig zulegte. Trotz des verletzung­sbedingten Ausfalls erst von Christian Ehrhoff, dann von Tobias Rieder, trotz Patrick Hagers Sperre, trotz aller Aufregung um Thomas Greiss' unappetitl­iche Online-Aktivitäte­n. Greiss-Ablöse Philipp Grubauer, Dennis Seidenberg und Christian Ehrhoff waren die herausrage­nden deutschen Kräfte; Leon Draisaitl auch, dessen Scheibenfü­hrung und Übersicht staunen ließen. 21 ist er, wie Dominik Kahun, wie Frederik Tiffels.

Das Trio macht Mut. Der (selbst) kritische Blick auch. Der Schritt von Köln muss also nicht der letzte bleiben.

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FOTO: DPA Wenn Trauer ein Gesicht bekommt: Deutschlan­ds Vize-Kapitän Dennis Seidenberg nach dem WM-Aus gegen Kanada.

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