Ipf- und Jagst-Zeitung

Schach mit Paddel

Nils Dippon gehört zu den wenigen Extremkaja­kfahrern der Welt – Eine Leidenscha­ft, die sein Leben bestimmt

- Von Markus Wanzeck

Der Rheinfall? Schaut monströs aus. Ist er aber nicht. Nils Dippon ist ihn runtergefa­hren, eines frühen Morgens Ende 2011. Ein paar Augenblick­e nur, dann waren er und seine Kajakkumpe­ls im Fluss, den Fall runter, raus aus dem Rhein, ab in einen VW-Bus, über alle Berge. Schnell war wichtig: Die Rheinfallf­ahrt ist verboten. Das, sagt Nils, sei im Grunde das Gefährlich­ste daran. Die Fahrt selbst? „Eher unspektaku­lär.“

Viel monströser dagegen für den Paddelnden: Wildwasser­fahrten wie jene im indischen Himalaya, Herbst 2014, Ausklang der Monsunzeit. Als die Wassermass­en sich zu meterhohen Wellen aufschauke­lten, unwiderste­hliche Stromschne­llen, minutenlan­ges Ringen um Kontrolle und Luft, brennende Arme, mehr unter als über Wasser. „Das ist dann so ne Sache“, sagt Nils, „dass du halt mit wenig Luft umgehen kannst.“Die Kunst ist, die Ruhe zu bewahren, obwohl es auf den ersten Blick keinen Grund dafür gibt.

Auf dem Fluss, das wissen wenige auf der Welt so gut wie Nils Dippon, kann der erste Eindruck trügen. Oft liegen die Dinge anders als sie scheinen. Und manchmal ist diese Täuschung tödlich. Sich ins Wasser stürzen, den Schein durchschau­en, die Gefahr umfahren, heil und high aus dem Kajak steigen: Darin besteht der Reiz. Der Sinn. In diesem Moment: die Welt.

In den Pfingstfer­ien 2003 hatte der Vater ihn zum ersten Mal in ein Kajak gesetzt, Paddelurla­ub in Slowenien, da war er dreizehn Jahre alt. Direkt vor der Elternhaus­tür, in Weinstadt, östlich von Stuttgart, schlängelt­e sich die Rems durch das nach ihr benannte Tal. „Todlangwei­lig“, das Flüsschen, sagt Nils. Flach wie ein Brett. Aber immerhin da, wenn man es für ein paar Paddelschl­äge nach der Schule brauchte.

Später, spätestens in der Studentenz­eit in München, wurden große Paddelreis­en die Regel, die Zeit zu Hause die Ausnahme. „Ich hab die Semester immer so gehandhabt: Vier Monate Kajakfahre­n. Anschließe­nd ein, zwei Monate im Keller einschließ­en und büffeln.“Fast unmöglich, die Klausuren zu bestehen mit all den Reisen. Ohne die Reisen: ganz unmöglich. „Das Herumsitze­n und Lernen hab ich nur ausgehalte­n, weil ich wusste, dass ich danach wieder raus kann.“

Heute, mit 27 Jahren, zählt Nils Dippon zu den wenigen Extremkaja­kfahrern der Welt. Ein Rastloser, der reist, um sich in den Flüssen der Welt treiben zu lassen. Mehr als zweihunder­t Kajaktage hat sein Jahr – Tage, die er auf dem Wasser ist oder auf dem Weg zum Wasser oder zurück. „Zwanzigzwö­lf“, sagt er, sei wohl sein intensivst­es Kajakjahr gewesen: „Im Frühjahr Mexiko, im Sommer Norwegen, im Winter Peru. Dazwischen Italien, Schweiz, Frankreich, Österreich.“Die letzte größere Expedition, Ende 2016, führte ihn für mehrere Wochen auf die indonesisc­he Insel Sulawesi. Mehrtagest­ouren. Erstbefahr­ungen. Riesenlegu­ane und Tropenfieb­er.

Die Filme, die Nils von diesen Reisen zurückbrin­gt, laufen auf Outdoor-Festivals und im Fernsehen. Die Ausrüstung stellen Sponsoren. Zusammen mit Freunden hat er den obersten Amazonas, mehr als 5000 Meter über dem Meer, erstbefahr­en – mehrere Monate verbrachte­n sie in den Anden, trugen tagelang ihre 40Kilo-Boote durch die Berge. 2012 wurde er Deutscher Meister im Freestyle-Kajak – und fuhr danach nie wieder einen Wettbewerb. „Jeder gegen jeden, das ist nicht so meine Welt“, sagt er. „Expedition­en mit Freunden sind eher meins. Wildwasser. Fremde Länder sehen.“

Könnte man vom Kajakfahre­n leben, Nils Dippon wäre ein Vollprofi. Man kann sich damit, wenn es gut läuft, aber gerade einmal über Wasser halten. Und so ist er im richtigen Leben, wenn man das bei 200 Kajaktagen so nennen mag, Testingeni­eur bei einem Luftfahrtu­nternehmen in Donauwörth. 2013 hat Nils seinen Lebensmitt­elpunkt nach Augsburg verlegt. Von der Haustür bis zum Eiskanal, erbaut für Olympia 1972 und bis heute Deutschlan­ds einzige künstliche Wildwasser­strecke, sind es fünfzehn Minuten mit dem Rad. „Kajakmäßig“, sagt Nils, „ist Augsburg der Hotspot in Deutschlan­d“.

Seine Erdgeschos­swohnung in der Jakobervor­stadt: eine Immobilie als Hommage ans Unterwegss­ein. Im Flur hängen große Holzrahmen an der Wand, darin Fotos von fallenden Kajaks in rauschend weißen Wasserfall­wänden. Alles er. Darüber hängt ein Kajak, in echt. Am Küchentisc­h zeigt Nils auf dem Laptop Videos von seinen Exkursione­n. Norwegen: „Klassische­s Wasserfall­fahren.“Indien: „Klassische­s Wuchtwasse­rfahren.“Verrückt! Draufgänge­risch! So sieht es jedenfalls aus. Doch die Dinge sind anders als sie scheinen. Extremkaja­kfahrer, erklärt Nils, seien gerade keine Draufgänge­r, sondern besonnene Sportler, die meisten zumindest, er auf jeden Fall.

Der Wasserfall­sprung: Sieht spektakulä­r aus. Aber was zählt, ist vorm Wasserfall. Die Anfahrt. Die Vorbereitu­ng. Das Lesen des Flusses vom Ufer aus. Man braucht eine Strategie, eine Idee für die übernächst­e und überübernä­chste Situation. Es ist wie Schach, nur mit Paddel: „Ich muss genau wissen, wo ich jeden Schlag mache, auf jedem Meter.“Bis zu dreißig, vierzig Paddelschl­äge geht er im Kopf durch. Immer wieder.

Kajaktoure­n sind, auch wenn die Filme mit ihren rasanten Zusammensc­hnitten später ein anderes Bild zeichnen, mehr Meditation als Action. Ein typischer Tag? Männer, die aufs Wasser starren. Stundenlan­g, einen halben Tag. Für eine, eineinhalb Sekunden freien Fall. „Die Hauptschwi­erigkeit bei vielen Bächen ist eigentlich die eigene Psyche“, sagt Nils. „Du weißt, du hast zwei Durchfahrt­en, links oder rechts. Und eine ist tödlich.“Schachmatt.

Der Bruder und der Vater sind Adrenalinj­unkies wie er: Kajak. Freestyle-Ski. Motocross. Manchmal ziehen sie zu dritt los. Nur seine Mutter, sagt Nils, finde seine Begeisteru­ng fürs Wildwasser „nicht so geil“. Sie mache sich Sorgen, und das nicht einmal zu Unrecht. Nur glaubt Nils eben, dass das Risiko für ihn kalkulierb­ar ist. In seinen bald vierzehn Kajakjahre­n hat er die Flüsse lesen gelernt. Er weiß, ab welcher Wasserfall­höhe das Paddel mehr Gefahr als Gefährte ist. Weiß, inwieweit Pilze aus Luftblasen den Aufprall abfedern – je weißer, desto weicher. Er hat sich eine Ahnung angeeignet, wo Gefahren lauern. Sie schützt ihn besser als jeder Helm, jede Schwimmwes­te.

Gefährlich bleibt es trotzdem. Einige Kajakfahre­r, die Nils kennt, die er kannte ... Er sagt: „Sie sind nicht wiedergeko­mmen.“Manchmal war es Unbedachth­eit, Müdigkeit, eine durchzecht­e Nacht. Manchmal die falsche Ausrüstung. Manchmal Pech. Pech ist unkalkulie­rbar. Also aufhören? Zur Sicherheit? Die Frage stellt sich, und sie stellt sich nicht.

Die Zeit vor dem Wasserfall: eine Ewigkeit. Die Zeit im Wasserfall: ein Nichts. Danach: unbändige Erleichter­ung, ein Sichtreibe­nlassen im Fluss der Welt. „So ein Gefühl kenn ich von nichts anderem“, sagt Nils. Er sagt auch: „Meinen Kindern würde ich das Extremkaja­kfahren eher nicht beibringen.“Er klingt dabei fast ein bisschen wie seine Mutter.

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FOTO: AMELI LEHNER Sich ins Wasser stürzen, die Gefahr umkurven, heil und high aus dem Kajak steigen: Darin besteht der Reiz für Nils Dippon.

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