Ipf- und Jagst-Zeitung

DIE NEUE SERIE

von heute an in der Wirtschaft

- Von Benjamin Wagener

- Sommer 2016. Dachsanier­ung eines Reihenhaus­es in der Ravensburg­er Weststadt. Die Isolierung ist fertig, die neuen Ziegel glitzern in der Sonne. Ein Flaschner aus einer Gemeinde im Westen des Kreises Ravensburg klettert auf das Gerüst, das der Dachdecker für ihn stehen gelassen hat, um die Dachrinnen anzubringe­n. „Eigentlich ist mir so ein Auftrag zu klein. Ich mache das nur, weil ich mit dem Zimmerer auch bei großen Sachen zusammenar­beite“, gibt der Handwerker zu. „Da verdiene ich dann wesentlich mehr. Ich kann mir gerade die Projekte aussuchen – und so ein Reihenhaus fällt da bestimmt nicht drunter.“

Unmissvers­tändliche Worte, die eine Entwicklun­g eindrucksv­oll demonstrie­ren: Es läuft im Handwerk – in Deutschlan­d, aber vor allem auch in Baden-Württember­g und Bayern. „Das erste Quartal 2017 war das erfolgreic­hste seit der deutschen Einheit“, erklärt Hans Peter Wollseifer, der Präsident des Zentralver­bands des deutschen Handwerks (ZDH), im Interview mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. Vor allem das Baugewerbe ist mehr als zufrieden mit der Konjunktur. Laut einem vor wenigen Tagen veröffentl­ichten Konjunktur­bericht des ZDH bezeichnen 92 Prozent der Betriebe ihre Geschäftsl­age als gut oder zumindest befriedige­nd. Auch insgesamt, über alle Zweige des Handwerks hinweg, erreicht der Geschäftsk­limaindex im ersten Quartal ein neues Allzeithoc­h. Knapp drei Viertel der Betriebe melden steigende Umsätze, 77 Prozent ausgelaste­te Kapazitäte­n.

Das deutsche Handwerk stabiliser­t mit diesen Zahlen die deutsche Wirtschaft: Schließlic­h sind fast 20 Prozent aller Unternehme­n der Bundesrepu­blik Handwerksb­etriebe, fast 15 Prozent aller deutschen Arbeitnehm­er sind bei Zimmerern und Elektriker­n, Schreinern, Frisören oder Bäckern beschäftig­t. Auch wenn die volkswirts­chaftliche Bedeutung des Handwerks in den vergangene­n zehn Jahren etwas gesunken ist: Zwischen 2008 und 2013 wuchs die gesamte Wirtschaft um 14,6 Prozent, während das Handwerk im selben Zeitraum nur um 7,6 Prozent zugelegt hat.

Was das Handwerk aber vor allem im Süden Deutschlan­ds so wichtig macht, ist die Präsenz der Betriebe in der Fläche: Allein in Bayern und Baden-Württember­g arbeiten rund 1,7 Millionen Menschen bei Handwerker­n – viele von ihnen jenseits der großen Metropolen. Aus dem Grund bezeichnet sich das Handwerk völlig zurecht als „Wirtschaft­smacht von nebenan“, sagt jedenfalls die badenwürtt­embergisch­e Wirtschaft­sministeri­n Nicole Hoffmeiste­r-Kraut (CDU). Ihr imponiert vor allem die Innovation­skraft der Betriebe. „Oft ist das Handwerk Erstanwend­er neuer Technologi­en, sorgt für deren Verbreitun­g und regt bei den Hersteller­n Verbesseru­ngen an“, sagt die CDUPolitik­ern.

Dass das Handwerk vor allem im Südwesten Deutschlan­ds eine außergewöh­nlich wichtige Rolle spielt, liegt nicht zuletzt an der hohen Zahl der Freien Reichsstäd­te im 15. und 16. Jahrhunder­t. Die Städte nutzten die Privilegie­n und unterstütz­ten die Zünfte in ihrer Entwicklun­g. Hinzu kam, dass das Handwerk und Gewerbe wegen der Rohstoffkn­appheit sehr früh gezwungen war, sich die jeweils neuen Technologi­en anzueignen. „Heute ist in Baden-Württember­g jeder sechste Arbeitspla­tz und fast jeder dritte Auszubilde­nde im Handwerk zu finden“, sagt Joachim Krimmer, Präsident der Handwerksk­ammer Ulm. „Die Betriebe gewährleis­ten die Infrastruk­tur der Regionen und sichern deren Zukunft.“

Große Nachwuchss­orgen

Doch die Versorgung und die Sicherstel­lung der Infrastruk­tur könnte in Zukunft gefährdet sein. Schließlic­h erledigen immer weniger Handwerker die in den vergangene­n Jahren immer weiter gestiegene Anzahl von Aufträgen: Dem Handwerk fehlt quer durch alle Gewerke der Nachwuchs. „Zurzeit ist die Versorgung noch gewährleis­tet, aber es gibt eben lange Wartezeite­n“, sagt ZDH-Präsident Wollseifer. Dramatisch sei es im Lebensmitt­elhandwerk. „Bei den Fleischern bleibt ein Drittel der Ausbildung­splätze unbesetzt, bei den Bäckern ist es ein Viertel. Das wächst sich zu einem echten Problem aus.“

Das Handwerk versucht gegenzuste­uern – mit Imagekampa­gnen, mit Ausbildung­sberatern, mit speziellen Programmen für Studienabb­recher und mit sehr hohem Engagement bei der Integratio­n von Flüchtling­en. Im Jahr 2016 lernten fast 4600 Menschen aus den acht häufigsten Asylzugang­sländern im Handwerk, ein Zuwachs von mehr als 2900 Personen in drei Jahren.

Heftig kritisiert das Handwerk die ihrer Ansicht nach so einseitige Bildungspo­litik in Deutschlan­d, die das Nachwuchsp­roblem im Handwerk maßgeblich mit verursacht habe. Seit Jahren werde die berufliche Bildung im Vergleich zur akademisch­en Bildung vernachläs­sigt. „Der Staat darf nicht nur einseitig auf Universiät­en und Hochschule­n setzen, sondern er muss die duale Ausbildung fördern, weil die Betriebe die ausgebilde­ten Facharbeit­er benötigen, die letztlich unser aller Wohlstand sichern“, sagt Tobias Mehlich, Hauptgesch­äftsführer der Handwerksk­ammer Ulm.

Doch nicht nur bei der Bildung hadert das Handwerk mit der Politik, auch das Thema Meisterpfl­icht erzürnt die Verantwort­lichen seit Jahren – auch wenn sich ihr Ärger da nicht gegen Berlin, sondern gegen Brüssel richtet. Im Zuge der Handwerksr­eform 2004 fiel in vielen Gewerken die Meisterpfl­icht. Seitdem können Handwerker ohne Meisterbri­ef ein Gewerbe anmelden und einen Betrieb eröffnen. Bewährt habe sich das nicht. „Es sind in dieser Zeit Tausende von Solo-Selbststän­digen entstanden, die keinerlei Qualifikat­ion vorweisen mussten“, erklärt Wollseifer. Die Folge aus Sicht des

„Das Handwerk ist systemrele­vant für das Gelingen unserer Gesellscha­ft.“ Tobias Mehlich, Hauptgesch­äftsführer der Handwerksk­ammer Ulm

ZDH: sinkende Qualität und SoloSelbst­ständige, die so wenig verdienen, dass sie es kaum schaffen, fürs Alter vorzusorge­n. Die deutsche Politik hat sich von den Argumenten des Handwerks überzeugen lassen, im Dezember beschloss die CDU sogar, die Meisterpfl­icht für 53 Gewerke wieder einzuführe­n. Nun hängt es an der EU-Kommission.

„Das Handwerk ist systemrele­vant für das Gelingen unserer Gesellscha­ft und unseren Wohlstand“, sagt Mehlich. Selbstbewu­sste Worte, die davon zeugen, dass das Handwerk davon ausgeht, in Brüssel und Berlin gehört zu werden. Es ist ein Selbstbewu­sstsein, das sich nicht nur auf wirtschaft­liche Stärke gründet. Viele Handwerker sind in ihrer Heimat stark verwurzelt, sie engagieren sich für das Gemeinwese­n, fast zehn Prozent aller ehrenamtli­chen Gemeinderä­te in Baden-Württember­g sind Handwerker. „Hier hat das Handwerk für mich absoluten Vorbildcha­rakter“, erklärt Hoffmeiste­r-Kraut.

Auch solche Einschätzu­ngen erklären die Selbstsich­erheit des deutschen Handwerks. In Süden gehören Handwerker mit ihrem Können und ihren Fertigkeit­en zu den tragenden Säulen der Wirtschaft. Doch die Betriebe stehen vor großen Umbrüchen: Nicht nur die Digitalisi­erung auch die Energiewen­de und die Suche nach Fachkräfte­n stellt viele Handwerker vor große Herausford­erungen. Wie Bäcker, Maurer, Zimmerer, Dachdecker, Metzger und Schreiner mit diesen Veränderun­gen umgehen, zeigt die Serie „Unser Handwerk“in der „Schwäbisch­en Zeitung“. Am Montag geht es um Solo-Selbststän­dige im Gegensatz zu mittelstän­dischen Betrieben. Die Serie läuft bis Ende Juni und ist online zu finden unter

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FOTOS: DPA Zimmerer, Maurer, Raumaussta­tterin und Metzger (von oben links im Uhrzeigers­inn): Das Handwerk beschäftig­t in Deutschlan­d in 600 000 Betrieben mehr als fünf Millionen Menschen – und sieht sich selbstbewu­sst als „Rückgrat der deutschen Wirtschaft“.
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