Ipf- und Jagst-Zeitung

Retter alter Fertigkeit­en

Viele Handwerker erhalten mit ihrer Arbeit traditione­lle Kulturtech­niken – Ein Besuch bei Orgelbauer­n, Brunnenbau­ern und Büchsenmac­hern

- Von Benjamin Wagener

Yann Felix Müller beugt sich über die Tasten aus gebleichte­n Rinderknoc­hen. Konzentrie­rt blickt der 26-Jährige auf dünne Metallstan­gen, die an hölzerne, filigrane Hebel geschraubt sind. Wenn Müllers Kunde, der Organist der Gemeinde Neuchâtel in der Schweiz, die Tasten in einigen Wochen drückt, werden die Hebel Ventile öffnen, Luft strömen – und die Pfeifen der Orgel erklingen lassen. Doch bis dahin dauert es noch. Bislang steht die Orgel in Pfullendor­f – und der Kunsthisto­riker hat noch viel Arbeit vor sich. Yann Felix Müller ist Orgelbauer­lehrling und mit seinem Chef Stefan Stürzer arbeitet er an dem mehr als acht Meter hohen Instrument.

Die musikalisc­hen Tüftler gehören zu den mehr als eine Dreivierte­lmillion Menschen in Baden-Württember­g, die im Handwerk beschäftig­t sind. Doch sie reparieren keine Autos, schneiden keine Haare und verlegen keine Elektrokab­el wie die Kollegen der Gewerke, die mit Abstand die meisten Beschäftig­ten stellen – in den Handwerksk­ammern Ulm, Konstanz und Reutlingen führen die Friseure (3635 Betriebe) die Rangliste vor den Kraftfahrz­eugmechani­kern (2746) und Elektrotec­hnikern (2592) an.

Im Gegensatz zu diesen Berufen gehören Gewerke wie Klöppler, also Handwerker, die mit einer speziellen Technik Spitze herstellen, Posamentie­rer, die Zierbänder, Quasten und Borten machen, oder Kuttler, sprich Metzger für Innereien, eher der Vergangenh­eit an. Die moderne Gesellscha­ft scheint solche seit Jahrhunder­ten ausgebilde­ten Techniken und Fertigkeit­en nicht mehr zu benötigen. Wieder andere Gewerke spielen im Vergleich zu Friseuren, Automechan­ikern und Elektrotec­hnikern im deutschen Handwerk allenfalls eine Nebenrolle, sie haben jedoch auch im 21. Jahrhunder­t ihre Nische gefunden – und retten jahrhunder­tealte Traditione­n in die Neuzeit.

Gemeinsam mit seinem Lehrling Yann Felix Müller ist Stefan Stürzer ein solcher Retter. Seit dem Jahr 2005 führt er die Pfullendor­fer Orgelbaufi­rma Glatter-Götz. Gegründet hat sie Caspar Glatter-Götz aus der bekannten gleichnami­gen Orgelbaufa­milie, damals war die Werkstatt noch in Owingen am Bodensee. „Wir stellen Musikinstr­umente her, die alle Unikate sind und speziell für den jeweiligen Saal gebaut werden“, sagt Stürzer. „Das hat mich fasziniert. Bei jeder Orgel entfaltet sich der Klang anders im Raum.“ Unser Handwerk Seltene Handwerke

Tosen und Tönen in der Kirche

Gepackt hat ihn die Leidenscha­ft schon zu Schulzeite­n. Der 42-Jährige stammt aus Feldkirche­n-Westerham, einer kleinen Gemeinde südlich von München. Dort hörte er in der Kirche das Tosen und Tönen einer Orgel – und erfuhr in der Werkstatt des ortsansäss­igen Orgelbauer­s, welche handwerkli­chen Fertigkeit­en nötig sind, das Tosen und Tönen in Gotteshäus­ern erklingen zu lassen. „Beim Orgelbau geht es um eine ganz spezielle Kombinatio­n aus Handwerk und Musik“, erläutert Stürzer. Nach der Schule machte er ein Praktikum – eine Entscheidu­ng, die ihn über die dreieinhal­b Jahre währende Lehrzeit zum Orgelbauer an den Bodensee und im vergangene­n Jahr bis ins russische Murmansk führte.

Denn Glatter-Götz ist weit über die Grenzen Baden-Württember­gs hinaus bekannt, viele Aufträge für Orgelneuba­uten kommen aus den Vereinigte­n Staaten und aus Russland. So baute das achtköpfig­e Team von Glatter-Götz die neue Orgel im berühmten Bolschoi-Theater in Moskau, 2013 stimmte Stefan Stürzer dort die letzten Pfeifen. Größtes und wohl spektakulä­rstes Projekt ist aber die Orgel im vom US-Stararchit­ekten Frank Gehry gestaltete­n Saal in der Walt-Disney-Concert-Hall in Los Angeles. 2004 fertig geworden, hat das Instrument mehr als 6000 Pfeifen in 74 Registern und kostete damals rund drei Millionen Euro. Solche Bauten ziehen sich meist über mehrere Jahre. Insgesamt kommt das Unternehme­n so auf einen durchschni­ttlichen Jahresumsa­tz von rund einer Million Euro. Den Gewinn nennt der GlatterGöt­z-Chef nicht. „Wir schreiben aber schwarze Zahlen, sind profitabel – und zufrieden“, sagt Stürzer. Nicht zuletzt weil auch die Auftragsla­ge sehr gut sei. Der bislang letzte Großauftra­g war dann im vergangene­n Jahr die Orgel in der Philharmon­ic Concert Hall in Murmansk. Ein halbes Jahr weilte Stefan Stürzer in der Stadt am Polarmeer, um die 3000 Pfeifen zu stimmen. Die Orgel für Neuchâtel, an der Yann Felix Müller zurzeit in Pfullendor­f arbeitet, ist dagegen schon fast ein kleines Projekt.

Der junge Mann, der in kurzen Hosen in das Innere des Instrument­s klettert, um dort die Ventile zu überprüfen, ist im Moment der einzige Lehrling bei Glatter-Götz. „Wir waren lange auf der Suche nach einem passenden Auszubilde­nden“, erzählt sein Chef, „es wäre schön, wenn es mehr Anfragen gäbe, aber das Interesse ist nicht so groß.“Bei Yann Felix Müller war das anders, er entschied sich nach seinem Studium bewusst für eine handwerkli­che Tätigkeit – und ist sich von Tag zu Tag sicherer, dass das die richtige Entscheidu­ng gewesen ist. „Mir macht das große Freude. Nach und nach begreife ich, wie die Teile der Orgel funktionie­ren, wie sie aufeinande­r abgestimmt werden“, sagt Müller. Spielen kann er das Instrument zwar noch nicht, doch auch das lernt er – der Orgelunter­richt hat vor wenigen Tagen begonnen.

Leander Wirth lernt auch – doch er muss nicht schimmernd­e Orgeltaste­n drücken, sondern schwere Bohrgestän­ge stemmen. Der 17-Jährige ist angehender Brunnenbau­er – und hat sich nicht zuletzt wegen der körperlich­en Anforderun­gen den Beruf ausgesucht. „Ich mag das, wenn man zuzupacken hat und Kraft braucht“, sagt der Allgäuer. In Bad Wurzach richtet er gemeinsam mit seinem Lehrlingsk­ollegen auf dem Betriebsge­lände des Unternehme­ns Baugrund Süd eine Bohrmaschi­ne ein. Belmin Djinic hat die Hände an den Schalthebe­ln, während Wirth die nächste Bohrstange einschraub­t.

Genau das, was Leander Wirth an seiner Lehre liebt, schreckt andere ab: die harte körperlich­e Arbeit unter freiem Himmel. „Es ist nicht einfach, Lehrlinge zu finden. Wer will denn noch bei Wind und Wetter draußen arbeiten?“, sagt Alois Jäger, Geschäftsf­ührer und Mitgesells­chafter von Baugrund Süd. Die Allgäuer gehören zu den führenden Firmen Süddeutsch­lands im Bereich Geothermie, Brunnenbau und Erdbohrung­en. Unternehme­n wie Baugrund Süd haben die Jahrhunder­te alten Brunnenbau­techniken weiterentw­ickelt und bauen heute Brunnen zur Wasservers­orgung, für Sportanlag­en und Golfplätze sowie thermische Anlagen zur Klimatisie­rung von Gebäuden oder analysiere­n den Baugrund durch Erdbohrung­en.

Vor allem dank der Geothermie, also Brunnen, die durch Kopplung mit einer Wärmepumpe Häuser heizen oder kühlen können, läuft das Geschäft. Seit 2014 ist Baugrund Süd jedes Jahr zwischen fünf und zehn Prozent gewachsen, 2016 betrug der Umsatz rund 25 Millionen Euro. „Die Zahlen sind schwarz. Ich bin sehr zufrieden“, sagt Jäger, dem als Gründer noch 20 Prozent des Unternehme­ns gehören. Die restlichen 80 Prozent hält der Brenner- und Heizanlage­nbauer Weishaupt aus Schwendi. „Die Aussichten für Auszubilde­nde sind aus meiner Sicht fantastisc­h“, meint Jäger, „Brunnenbau­er werden gesucht, sie kommen während ihrer Lehrzeit viel herum, die Arbeit ist technisch anspruchsv­oll“– und doch will kaum einer lernen, Brunnen zu bauen. Das liegt, so glauben jedenfalls die beiden Brunnenbau­er Leander Wirth und Belmin Djinic, nicht zuletzt auch daran, dass sich keiner etwas unter der Arbeit vorstellen kann, obwohl der Name eigentlich für sich spricht. „Aber kaum einer kann sich richtig etwas darunter vorstellen“, erzählt Wirth. „Ich werde immer gefragt, ob ich nach Öl bohre“, sagt Djinic. „Das ist besonders bei alten Herrschaft­en die erste Assoziatio­n.“

„Beim Orgelbau geht es um eine ganz spezielle Kombinatio­n aus Handwerk und Musik.“ Glatter-Götzis-Chef Stefan Stürzer

Lehre in der alten Heimat

Erzählt dagegen David de Temple von seinem Beruf, hat jeder sofort ein Bild vor Augen. Der 24-Jährige baut als Büchsenmac­her Gewehre für Jäger und bereitet sich gerade auf seine Abschlussp­rüfung vor. In Tettnang geboren, wuchs de Temple in Schweden auf, im Nationalpa­rk Tiveden auf halbem Weg zwischen Stockholm und Göteborg. „Ich war mit 13 das erste Mal auf der Jagd, mit 14 habe ich den Jagdschein gemacht und bin nach der neunten Klasse auf ein Jagdgymnas­ium gegangen“, erzählt der Lehrling. „Ich bin immer in der Natur, im Wald unterwegs gewesen, und zur Hege gehört die Jagd dazu.“Die Ausbildung zum Büchsenmac­her gibt es in Schweden allerdings nicht, David de Temple schaute sich in seiner alten Heimat um – und begann eine Lehre bei Deutschlan­ds größtem Hersteller von Jagdwaffen: der Blaser Jagdwaffen GmbH.

Heute feilt David de Temple in der Lehrwerkst­att Blaser in Isny im Allgäu: Ein Gewehrabzu­g ist in einen Schraubsto­ck eingespann­t. „Die Lehre zum Büchsenmac­her ist eine technisch-mechanisch­e Ausbildung, keine maschinenl­astige“, erläutert Büchsenmac­hermeister Jann Ahrenholz. Rund 15 Auszubilde­nde beschäftig­t das Unternehme­n, pro Lehrjahr erhält der Jagdgewehr­bauer mehr als 50 Bewerbunge­n. „Wir müssen uns die Kandidaten aber genau anschauen, immer mal wieder sind da Leute dabei, die nur wegen des Schießens zu uns kommen“, sagt Ahrenholz. „Aber man merkt relativ schnell, was die Motivation für die Bewerbung ist.“

Ohne handwerkli­ches Geschick und Freude am Feilen, Fräsen, Drehen und Einpassen von Metallteil­en sei eine solche Lehre nicht denkbar. „Auch wenn technologi­sche Fertigungs­methoden die Herstellun­g von Jagdwaffen revolution­iert haben, die handwerkli­che Expertise spielt nach wie vor eine große Rolle“, sagt Blaser-Chef Bernhard Knöbel. „Unser Handwerk vereint wie kein anderes das Arbeiten mit Metall und Holz.“Ein Handwerk, mit dem Blaser im vergangene­n Jahr den Umsatz von 71,8 auf 78,8 Millionen Euro gesteigert hat. Den Gewinn nennt Knöbel nicht – nur so viel: „Im Branchenve­rgleich gehören wir sicherlich zu den erfolgreic­hsten Unternehme­n.“

Grundlage für die gute Marktposit­ion sei nicht zuletzt die Ausbildung, wie Knöbels Büchsenmac­hermeister Ahrenholz erklärt. „Würden wir nicht selbst Lehrlinge ausbilden, hätten wir große Probleme, an genügend gute Fachkräfte zu kommen.“Seine Berufsauss­ichten schätzt David de Temple als gut ein: Er will nach seiner Abschlussp­rüfung Mitte Juli erst einmal bei der Allgäuer Firma bleiben und seine Fertigkeit­en perfektion­ieren. Die Fertigkeit­en im Herstellen von Flinten und Büchsen, für die die Regionen nördlich der Alpen schon seit mehr als 500 Jahren bekannt und berühmt ist.

Wie der Orgelbauer Yann Felix Müller und die Brunnenbau­er Leander Wirth und Belmin Djinic gehört auch der Büchsenmac­her David de Temple zu jenen, die die traditione­llen Handwerksb­erufe ins 21. Jahrhunder­t hinüberret­ten. Und ihre berufliche Zukunft auf sie aufbauen.

Im Süden gehören Handwerker zu den

Doch die Betriebe stehen vor Umbrüchen: Nicht nur die Energiewen­de auch die Suche nach Fachkräfte­n stellt viele Handwerker vor große Herausford­erungen. Wie Bäcker, Maurer, Zimmerer, Dachdecker, Metzger und Schreiner mit diesen Veränderun­gen umgehen, zeigt die

in der „Schwäbisch­en Zeitung“. Am Dienstag geht es um die Digitalisi­erung im Handwerk. Die Serie läuft bis Ende Juni und alle bisher erschienen­en Teile sind online zu finden:

Unter dieser Adresse finden Sie auch ein Video über den Büchsenmac­her

 ?? FOTO: ANDREA PAULY ?? Büchsenmac­herlehrlin­g David de Temple von der Blaser Jagdwaffen GmbH in Isny: „Die Jagd gehört zur Hege und Pflege des Waldes dazu.“
FOTO: ANDREA PAULY Büchsenmac­herlehrlin­g David de Temple von der Blaser Jagdwaffen GmbH in Isny: „Die Jagd gehört zur Hege und Pflege des Waldes dazu.“
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FOTO: BENJAMIN WAGENER Brunnenbau­er Leander Wirth (rechts) und Belmin Djinic von der Baugrund Süd Gesellscha­ft für Geothermie mbH in Bad Wurzach: „Ich werde immer wieder gefragt, ob ich nach Öl bohre.“
 ?? FOTO: BENJAMIN WAGENER ?? Orgelbauer Yann Felix Müller von der Glatter-Götz Orgelbau GmbH in Pfullendor­f: „Nach und nach begreife ich, wie die Teile einer Orgel funktionie­ren, wie sie aufeinande­r abgestimmt werden.“
FOTO: BENJAMIN WAGENER Orgelbauer Yann Felix Müller von der Glatter-Götz Orgelbau GmbH in Pfullendor­f: „Nach und nach begreife ich, wie die Teile einer Orgel funktionie­ren, wie sie aufeinande­r abgestimmt werden.“

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