„Einmal weniger hauen – aber dolle“
Aziz Simsek aus Laupheim war ein ungeschlagener Profiboxer, dann beruflich dreieinhalb Jahre in China – jetzt will er um Titel kämpfen
- Die Chance kam unvermittelt. Die Chance hieß China, Jinzhou – beruflicher Um- und Aufstieg in einem. Acht Profikämpfe hatte Aziz Simsek geboxt, alle gewonnen, sechs vorzeitig. Kampf Nummer 9 war erwartungsvoll festgezurrt – für 5. Oktober 2013 in Mietingen (Landkreis Biberach), Aziz Simseks Heimatort. Ein Titelkampf: Halbschwergewicht, Internationale Deutsche Meisterschaft. Jinzhou also stattdessen, die Herausforderung. Ausfüllend, erfüllend, prägend. Dreieinhalb Jahre lebte und arbeitete Aziz Simsek in China. Jetzt ist er zurück in Laupheim, seit gut vier Wochen steht er wie einst voll im Training. 39 ist Aziz Simsek, die ersten Einheiten waren „brutal“. Die Ziele allerdings bleiben ambitioniert: Internationale Deutsche Meisterschaft noch diesen Herbst, EM-Titel 2018; 2019 soll es um den WM-Gürtel gehen. Trainer Gerd Drabsch: „Er will. Er hat den Hunger und den Ehrgeiz. Das spürst du immer wieder.“
Wer 68 seiner bald 77 Lebensjahre mit dem Boxen zu tun hat(te), den trügt sein Bauchgefühl nicht. Gerd Drabsch hat es jung zu Meisterehren gebracht für Motor Boizenburg, war vor Melbourne 1956 Sparringspartner von Wolfgang Behrendt, dem ersten Olympiasieger der DDR. Hat seinen Sport bei Aufbau Halle groß gemacht, war im Trainerstab bei Manfred Wolkes Goldmedaille 1968, hat Weltmeister Marco Rudolph begleitet und ist – längst in Friedrichshafen daheim – seit Anfang 2012 Trainer Aziz Simseks. Der Späteinsteiger und der bekanntermaßen Fordernde („Ich bin am Ring kein Feiner“): das passte sofort. Gerd Drabschs Einschätzung damals: „Der Junge ackert, er ist aggressiv. So einen Box-Bekloppten hab’ ich noch nie gehabt!“
K.o.-Siege gegen Kickboxer
Das „Bekloppt“-Sein war stark gedrosselt in Jinzhou. Für die Uhlmann Pac-Systeme GmbH & Co. KG den Umstrukturierungsprozess eines chinesischen Tochterunternehmens forcieren – das brauchte den ganzen Aziz Simsek. „Ankommen und starten“hieß es, Entscheidungen treffen, Entscheidungen vertreten, nebenher mit der Mentalität der neuen Kollegen, mit einer fremden Kultur vertraut werden. Da fehlten die Zeit und der freie Kopf für geregeltes Training, Gerd Drabsch sowieso. Aziz Simsek machte, „was man halt selbst machen kann ohne Trainer“. Nach Feierabend, vor Dienstbeginn, „vielleicht zehn Prozent, 20 Prozent“seines aktuellen Pensums. „Also minimal!“Genug im- merhin, um zweimal bei zwei Versuchen einheimische Kickboxer zu bezwingen – allein per Faust. „Da hast du nur eine Chance, wenn du ganz rein gehst und nicht zulässt, dass die mit dem Fuß zuhauen! Und wenn du sie dann mit den Armen bearbeitest ...“ Keine Runde dauerte Kampf eins, Kampf zwei beendete Aziz Simsek in der dritten Runde per Niederschlag.
Schlaghärte will gepflegt sein; „daran“, sagt Aziz Simsek, „arbeiten wir grad ganz arg“. In Sachen Kraft, Ausdauer auch – „und muskulär“– ist das Kürzertreten nach Juli 2013 noch im späten Mai 2017 zu spüren: „Selten so Schmerzen gehabt wie jetzt!“Gerd Drabsch lächelt wissend, spricht von „viel Nachholbedarf“– aber: „Wir liegen bei 70 Prozent.“Sein Boxer ist da (selbst-)kritischer, hätte sich „gegenüber damals, 2013“auf „vielleicht 60 Prozent“taxiert. Und trotzdem exakt im Plan: 100 Prozent sieht der für den 17. Juni vor, für übernächsten Samstag. Dann steht Balazs Horvath aus Ungarn Aziz Simsek gegenüber, ein erfahrener Boxer (51 Kämpfe, 29 Siege, sechs durch K.o.). Die maximal sechs Runden im oberbayerischen Traunreut (Petko’s Fight Night; TuS-Halle, Beginn 19 Uhr) sind Etappe, erster Schritt. Führen soll der Weg nach Ljubljana: 14. Oktober, Internationale Deutsche Meisterschaft. Der Höhepunkt im Comeback-Jahr.
Er möchte es noch einmal wissen, für Aziz Simsek selbst stand das außer Frage: „Mein Wollen war immer da.“Gerd Drabschs Wollen offenbar auch. Zum Glück: „Mit ihm oder gar nicht“sollte der Wiedereinstieg stattfinden, denn: „Eine Vertrauensbasis muss da sein, das Gefühl, man ist gut aufgehoben. Dass der Trainer weiß, wo man hin will, dass er weiß, wo sind meine Grenzen.“Weiß Gerd Drabsch. Setzt entsprechend Reize, dosiert Belastungen, kitzelt Leistung heraus. Und sagt: „Da ist noch mehr drin. Aziz ist noch nicht verbraucht.“
Und doch muss er mit 39 anders boxen als ein 25-Jähriger. „Einmal weniger hauen – aber dolle“heißt Gerd Drabschs Maßgabe, das Ganze bevorzugt aus der Nahdistanz, denn bei 1,71 Meter Körpergröße hat man selten Reichweitenvorteile. „Dicht am Mann arbeiten“also, idealerweise kontrolliert, das Tempo variierend, die Schläge intelligent gesetzt. Schon vor China hatte Aziz Simsek da seine Qualitäten; jetzt wird verfeinert, gefeilt. Vielversprechend. Gerd Drabsch: „Er hört sich das an, er begreift’s innerhalb von ’ner Minute, er setzt es auch um.“Vorerst im Sparring. Das Tandem Simsek/Drabsch ist bestens vernetzt, in Österreich, in der Schweiz, in Deutschland kann es den Ernstfall proben. Härtester Brocken unter den Gegnern übungshalber: Avdi Asllani vom BV Überlingen, ein arrivierter Amateurboxer, der immerhin 95 Kilogramm hinter seine Gerade bringt. 77 Kilogramm wiegt Aziz Simsek – „da“, Gerd Drabsch grinst, „haben wir ein bisschen was zu tun“.
Hat Rückkehrer Simsek gerade generell. Das tägliche Laufen ist problemlos mit den beruflichen Pflichten als Senior Manager Strategic Projects bei Uhlmann zu vereinbaren; fürs boxspezifische Training holt Aziz Simsek „eben dann Zeit raus, wenn’s geht“. Sprich: Er arbeitet vor oder nach. Hilfreich dabei, dass erstens „der Betrieb hinter mir und meinem Boxen steht“. Und zweitens zum Ravensburger Kings Gym, zur Physiotherapie-Praxis Yves von Mackensen in Langenargen ein Basis-Camp direkt in Laupheim gekommen ist: Der „Sportpark“Gerhard Romers (selbst früher boxend) bietet in einem 225-QuadratmeterGymnastikraum alles Equipment, alle Ruhe für ein gezieltes Vorbereiten.
Ein Kopf, zwei Arme, zwei Beine
Dreieinhalb Jahre Jinzhou. Die Kollegen dort hat Aziz Simsek schätzen gelernt, den Familiensinn der Chinesen. Vermisst hatte er „Kleinigkeiten: Laugensemmel, Brezel, Nutella – solche Sachen“und seine Freunde. Freunde wie Erich Feigelmann, der am Ring, beim Training „immer mit dabei“ist. Als Helfer, als seelisch-moralischer Beistand, als Vierter im Team neben Gerd Drabsch und Gerhard Romer.
Und dieses Quartett denkt an die Weltmeisterschaft, falls alle Hoffnungen Wirkungstreffer werden? Aziz Simsek: „Ich überleg’ mir manchmal schon: Wieso schaffen das andere? Die haben ja auch nicht mehr: einen Kopf, zwei Arme, zwei Beine.“Aziz Simsek hätte noch ein Sammelsurium chinesischer Schimpfwörter. Falls die Hoffnungen platzen. „Aber die wollen Sie wirklich nicht wissen!“
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