Ipf- und Jagst-Zeitung

Ein Haus voller Kinder

Eine Familie hilft Kindern, die nicht mehr bei ihren leiblichen Eltern leben können – aus der Pflegefami­lie ist ein Kinderheim entstanden

- Von Sarah Schababerl­e

- Das Wort Nein geht Claudia Blezinger nur schwer über die Lippen. Vor allem, wenn es um Kinder geht, die Hilfe brauchen. Zusätzlich zu ihren eigenen Kindern hat die Markdorfer­in erst ein Pflegekind aufgenomme­n, später wurden es immer mehr. Heute teilen ihr Mann und sie sich ihr Haus mit sieben Pflegekind­ern.

Dabei hätte Claudia Blezinger auch so immer genug zu tun gehabt – in ihrem Beruf als Jugend- und Heimerzieh­erin, als Mutter von drei Kindern und auf dem Bauernhof ihres Mannes. Der Hof von Blezingers liegt idyllisch auf einem Hügelrücke­n in der Nähe von Markdorf inmitten von grünen Wiesen, Feldern und einem kleinen Wäldchen. Claudias Mann Peter übernahm als Landwirtsc­haftsmeist­er den Hof von seinen Eltern und bewirtscha­ftet ihn bis heute mit Biogetreid­e und 30 Schafen. Zu ihm zog Claudia, als sie mit dem ersten gemeinsame­n Kind schwanger war.

Beim Betreten der Küche fällt der Blick gleich auf den großen Holztisch, der den halben Raum einnimmt. Eine Maßanferti­gung von einem befreundet­en Schreiner. 14 Personen könnten hier einigermaß­en bequem Platz finden. Es riecht heimelig nach Räucherstä­bchen und Gewürzen. In der Tischmitte ist der Rest der Küchenarbe­itsplatte, eine schwarze Granitplat­te, als Untersetze­r eingelasse­n. Eine Bank mit Lehne, deren hellgrüner Lack an den Kanten schon ein bisschen abgewetzt ist, fügt sich wie ein großes L um den Tisch herum. Von hier aus hat man eine gute Sicht auf den großen Jahreskale­nder, der an der Wand neben der Tür hängt. Mit kleiner Schrift sind die Felder mit unzähligen Terminen vollgeschr­ieben. Gegenüber sind sechs Stundenplä­ne mit Magneten am Kühlschran­k befestigt. Durch eine Tür geht es weiter ins Wohnzimmer.

Angst vorm Scheitern

Damals in der Schwangers­chaft kündigte Claudia ihren Job in einem Sigmaringe­r Kinderheim und wollte sich nach der Babypause in Markdorf etwas Neues suchen. Doch damit war ihr Chef nicht einverstan­den. Er schlug vor, dass die Erzieherin weiter angestellt bleibt und gemeinsam mit ihrem Mann als eine Art profession­elle Pflegefami­lie ein Pflegekind bei sich aufnehmen könnte. „Ich wollte eigentlich nicht“, gibt Claudia zu. Zu groß war ihre Angst zu scheitern und bei dem Kind damit weiteren Schaden anzurichte­n. Solche Fälle hatte sie im Kinderheim oft genug erlebt. Anderersei­ts hatte sie Erfahrung und es bot sich so die Möglichkei­t, Geld zu verdienen und trotzdem für die eigenen Kinder da zu sein. Ihr Mann war gleich dafür und so nahm die kleine Familie nach einer kurzen Bedenk- und Kennenlern­zeit 1988 einen 10-jährigen Jungen bei sich auf.

Die 55-Jährige wirkt selbst ein bisschen erstaunt, wenn sie erzählt, wie alles so gekommen ist. Ihr blonder Kurzhaarsc­hnitt und die gekrempelt­e Jeans lassen sie jünger wirken. Ihre Schritte federn leicht, während sie durch die Räume des über 100 Jahre alten Bauernhaus­es geht. Das platzt aus allen Nähten. Die Scheune wurde schon vor Jahren mit Kinderzimm­ern und zwei zusätzlich­en Bädern ausgebaut. Inzwischen bauen Blezingers gegenüber ein Therapieha­us und ein Wohnhaus für sich, in dem sie auch im Ruhestand wohnen können. Unterstütz­t werden sie dabei mit speziellen Fördermitt­eln der EU und vom Land BadenWürtt­emberg.

Nach Sohn Ferdinand und Pflegesohn Hansi wuchs die Familie weiter: Im Zweijahres­abstand kamen Sohn Vincent und noch einmal zwei Jahre später Tochter Marei auf die Welt. Genug zu tun für die jungen Eltern, zumal der jugendlich­e Ziehsohn „alles an Verhaltens­störungen hatte, was es so gibt“, erzählt Claudia. „Das war schon wild.“Heute lächelt sie darüber. Beinahe jede Woche gibt es Krisen in der Familie, denn jedes Pflegekind bringt ein ganzes Paket an Problemen aus der Herkunftsf­amilie mit.

Psychische Auffälligk­eiten

Die Ursachen lägen in einer physischen oder psychische­n Erkrankung der leiblichen Eltern, Gewalt, Missbrauch, Alkohol, Drogen oder Überforder­ung, erklärt Gisela Tabel vom Jugendamt Friedrichs­hafen, das für den gesamten Bodenseekr­eis zuständig ist. Meist würden die Probleme nicht einzeln auftreten, sondern in Kombinatio­n. Diese Vorerfahru­ngen bahnen sich dann nicht selten ihren Weg in psychische­n Auffälligk­eiten der Kinder, die Bindungspr­obleme haben, aggressiv sind oder unter Depression­en leiden. Bei Blezingers ging da schon mal eine Kommode zu Bruch, wenn ein Jugendlich­er einen Aggression­sschub hatte. „Wenn es kritisch wurde, mussten alle raus“, erzählt Claudia.

Studien belegten laut Tabel einen Zusammenha­ng zwischen der Lebenssitu­ation und Erziehungs­problemen, überdurchs­chnittlich oft seien sozial schwache Familien, Alleinerzi­ehende, Hartz-IV-Empfänger betroffen. Sie warnt aber davor, vorschnell­e Schlüsse zu ziehen: „Auch wenn ein Lebensmode­ll vielleicht anders aussieht, als Otto-Normalverb­raucher sich das vorstellt, muss das nicht heißen, dass ein Kind gefährdet ist.“Auch in besser situierten Familien gebe es Probleme, wenn Eltern beispielsw­eise die emotionale­n Bedürfniss­e ihrer Kinder nicht befriedige­n könnten. Laut Tabel würden diese ihre Kinder bei Problemen aber eher in eine Therapie oder ein Internat schicken und deshalb seltener beim Jugendamt landen.

Immer wieder Kriseninte­rventionen

Als Hansi 16 ist und Blezingers realisiere­n, dass er irgendwann ausziehen wird, entscheide­n sie sich, erneut ein Pflegekind aufzunehme­n. Doch statt eines Pflegekind­es kommen zwei – Geschwiste­r. „Dann ging es Schlag auf Schlag“, erzählt Claudia. Weitere Kinder folgen, dazu kommen immer wieder Kriseninte­rventionen und Inobhutnah­men. Hinter den hölzernen Begriffen verbergen sich akute Krisen in Familien, die es notwendig machen, dass Kinder kurzfristi­g aus ihrem gewohnten Umfeld geholt werden, weil das Kindeswohl gefährdet ist. Die Kinder bleiben dann nur so lange, bis geklärt ist, wie es mit ihnen weitergeht. Vier bis fünf Pflegekind­er wohnen nun auf dem Hof.

Im Obergescho­ss hat jedes Kind sein eigenes Zimmer. Pferdepost­er, Fotocollag­en oder eine BasecapSam­mlung machen jedes Zimmer zu einem persönlich­en Rückzugsra­um. Ganz oben unterm Dach haben Blezingers noch ein privates Reich. Zwei kleine Zimmer, die mit einer steilen Treppe verbunden sind. Daneben wohnt Tochter Marei, die die Mutter bei Büroarbeit­en oder in der Küche unterstütz­t. Doch privat sind sie eigentlich nie.

Für ihre eigenen Kinder sei es kein Problem gewesen, mit vielen Pflegegesc­hwistern aufzuwachs­en, sagt Claudia. Dazu hätten Auszeiten beigetrage­n, die sie für sich und die Kinder nahm, ebenso wie ihre Haltung, klar zwischen eigenen und Pflegekind­ern zu unterschei­den. Mama und Papa waren Claudia und Peter nur für Ferdinand, Vincent und Marei. Doch leicht war es nicht immer: „Es gab viele wohlmeinen­de Ratschläge, was wir unseren Kindern da antun“, erzählt Claudia. „Das beunruhigt einen schon.“

Mit den ersten Pflegekind­ern, die erwachsen werden, wird Blezingers vor Augen geführt, dass sie sie nicht alle retten können. Einige der Kinder, die sie einst aufgenomme­n und großgezoge­n haben, stürzen in tiefe Krisen und scheitern am normalen Leben. Die Pakete, die sie aus ihren Ursprungsf­amilien mitgebrach­t haben, sind offenbar zu groß.

Bei Claudia weckt das starke Zweifel. „Ich hatte den Eindruck, den Kindern nicht gerecht werden zu können.“2002 beginnt sie deshalb, in Weingarten Sozialpäda­gogik und soziale Arbeit zu studieren. Nach dem Diplom hängt sie eine Ausbildung für Kinder- und Jugendpsyc­hotherapie und eine Weiterbild­ung zur Traumather­apeutin an.

Im Obergescho­ss neben dem Schlafzimm­er hat sie ein Therapiezi­mmer eingericht­et. Was hier besprochen wird, bleibt geheim. Für Claudia eine ständige Gratwander­ung, denn sie ist gleichzeit­ig Therapeuti­n und Pflegemutt­er. Doch in ihren Augen hat das vor allem Vorteile: Sie hat ein Vertrauens­verhältnis zu den Kindern und ist jederzeit ansprechba­r. Oft räumt sie einem Kind, das ein Problem aus der Schule mitgebrach­t hat, abends noch eine Therapiesi­tzung ein. „Schwierig ist es, wenn ich pädagogisc­h Grenzen setzen muss und mein Therapeute­nherz blutet.“

Sechs Plätze

2013 kommt das Jugendamt Friedrichs­hafen auf Blezingers zu. Neue Standards erlauben maximal zwei als schwierig eingestuft­e Kinder pro Pflegefami­lie. Blezingers haben zu der Zeit fünf. Doch Kinder wieder abzugeben, kommt für Claudia nicht infrage. Also machen sie aus der Pflegefami­lie kurzerhand ein Kinderheim. Die Voraussetz­ungen dafür haben Blezingers bereits erfüllt, deshalb bekommen sie schnell die Betriebser­laubnis vom Landesjuge­ndamt. „Wenn wir das geplant hätten, hätten wir es nicht besser machen können“, sagt Claudia. 2016 vergrößert sie noch einmal von vier auf sechs Plätze.

Inzwischen hilft (fast) die ganze Familie mit: Sohn Vincent, der eine Ausbildung zum Jugend- und Heimerzieh­er gemacht hat und inzwischen in Konstanz Psychologi­e studiert, springt immer wieder ein. Seine Frau Ines, eine Sozialpäda­gogin, die er im Kinderheim kennengele­rnt hat, soll die Einrichtun­g irgendwann übernehmen. Das Paar, das inzwischen zwei Kinder hat, wohnt ganz in der Nähe.

78 Wartesemes­ter

Auch Claudias Mann Peter beginnt mit Mitte 50 neben der Arbeit auf dem Hof ein Studium in sozialer Arbeit. Gerade ist er im sechsten Semester. „Er hatte 78 Wartesemes­ter“, frotzelt Claudia, ist aber gleichzeit­ig sichtlich stolz. Ihr Einsatz für die Kinder hat ihr 2016 den Publikumsp­reis für soziales Engagement bei der Radio 7-Charitynig­ht eingebrach­t.

Wenn sie einmal mehr Zeit hat, will Claudia gerne ein Buch schreiben. Doch gerade erst hat sie wieder drei neue Pflegekind­er – Geschwiste­r – aufgenomme­n und jede Menge zu tun. „Manchmal könnte mein Tag gut und gerne 48 Stunden haben“, sagt sie lachend. Den Traum vom Reisen hat sie sich aber inzwischen verwirklic­ht: Gemeinsam mit ihrem Mann nimmt sie sich jedes Jahr zwei bis drei Wochen Auszeit, um ein neues, fernes Land zu erkunden. Dann springen Marei, Vincent und Schwiegert­ochter Ines ein. Neben Südafrika war sie schon in Istanbul, auf dem Kilimandsc­haro, auf Galapagos, den Malediven. Nächstes Jahr soll es nach Indonesien gehen – oder vielleicht in die Beringsee.

 ?? FOTOS: PRIVAT (2)/SARAH SCHABABERL­E ?? Das ganze Sofa-Team: Aus einer Familie ist inzwischen ein Großprojek­t geworden.
FOTOS: PRIVAT (2)/SARAH SCHABABERL­E Das ganze Sofa-Team: Aus einer Familie ist inzwischen ein Großprojek­t geworden.
 ??  ?? Das 100 Jahre alte Bauernhaus platzt aus allen Nähten.
Das 100 Jahre alte Bauernhaus platzt aus allen Nähten.
 ??  ?? Claudia Blezinger bietet sechs Pflegekind­ern Platz.
Claudia Blezinger bietet sechs Pflegekind­ern Platz.

Newspapers in German

Newspapers from Germany