Die Turniertänzerin schafft die Sensation
Jelena Ostapenko setzt sich mit ihrem Powertennis durch und könnte der ersehnte neue Star der Szene werden
(SID/dpa) - Auch am Tag danach – und nach einer langen Partynacht – wirkte Jelena Ostapenko kein bisschen müde. „Ich kann es immer noch nicht glauben, ein Traum ist wahr geworden“, sagte die überraschende Siegerin der French Open. Ein paar Luxusprobleme hat die erste ungesetzte Siegerin von Roland Garros seit 1933 dann aber doch. „Was ich mit dem Preisgeld mache? Bestimmt keinen Fernseher kaufen. Lieber schön shoppen gehen hier in Paris – aber da fehlt mir ja eigentlich die Zeit“, sagte die 20-Jährige – und grinste keck.
Die 2,1 Millionen Euro an Prämie waren das eine, die Bedeutung ihres Siegeszuges an der Seine, das mit dem 4:6, 6:4, 6:3-Finalcoup gegen Simona Halep (Rumänien/Nr. 3) den krönenden Abschluss fand, das andere. „Die Götter wollten, dass Ostapenko gewinnt. Sie ist der neue Star der Damenszene, die nach einem neuen Gesicht gesucht hat“, schwärmte Eurosport-Experte Boris Becker von Spielstärke und Charisma der manchmal noch so kindlich wirkenden Lettin. „Heute wurde ein neuer Star geboren“, sagte die siebenmalige French-Open-Siegerin Chris Evert, „und ich muss sagen: Es ist so großartig für das Frauentennis. Wir brauchen frisches, junges Blut“, sagte die Amerikanerin.
Die Sensationssiegerin von Paris redet so, wie sie spielt. Unbekümmert, rasend schnell und ohne Scheu. „Das hat mir niemand beigebracht. So spiele ich einfach und mein Charakter ist genauso“, sagte sie. „Süchtig nach Risiko“beschrieb die „New York Times“ihre Spielweise. Messungen haben ergeben, dass die ehemalige Turniertänzerin („Samba ist mein Favorit“) die Vorhand im Durchschnitt härter geschlagen hat als der britische Weltranglistenerste Andy Murray (122,3 Stundenkilometer zu 117,5).
Sie kennt nur Hop oder Top
Weitere Zahlen gefällig? 54 direkten Gewinnschlägen standen im Endspiel 54 sogenannte unerzwungene Fehler gegenüber. Ihr Spiel ist ein irres Spektakel, Hop oder Top. „Ich habe mich manchmal wie ein Zuschauer auf dem Platz gefühlt“, sagte Halep, die nach dem Gewinn des ersten Satzes auch im zweiten Durchgang mit 3:0 geführt hatte.
Doch Ostapenko, die Krimis von Agatha Christie liebt. schlug im wahrsten Sinne des Wortes zurück. „Ich habe mir einfach gesagt: ,Hab Spaß und kämpfe bis zum letzten Punkt.’“Symptomatisch, dass die Tochter eines Profifußballers den ersten Matchball nach knapp zwei Stunden mit einem krachenden Return-Winner verwandelte. „Ich war eigentlich nicht nervös und habe die Nacht vorher super geschlafen“, berichtete Ostapenko, deren erster Turniersieg gleich der Coup bei den French Open war. So wie bei Publikumsliebling Gustavo Kuerten (Brasilien) am 8. Juni 1997: Genau an diesem Tag wurde Ostapenko geboren.
Und die jüngste Paris-Gewinnerin seit 20 Jahren hat große Ziele. „Ich würde gerne noch andere Grand Slams gewinnen“, sagte Ostapenko, die bereits seit sieben Jahren einen Manager hat: „Wenn ich einen guten Tag habe, dann ist alles möglich.“
Mit ihrem Überraschungstriumph hat Ostapenko das im Umbruch steckende Frauentennis weiter durcheinander gewirbelt. Die übermächtige Serena Williams pausiert wegen ihrer Schwangerschaft, die Weltranglisten-Erste Angelique Kerber steckt in der Krise – behält aber dank Ostapenko vorläufig den Platz an der Spitze. Hätte Halep gewonnen, wäre die Rumänin auf Platz 1 geklettert. „Ich habe mich auf dem Court zeitweise wie ein Zuschauer gefühlt“, sagte Halep, die weiter auf einen Grand-Slam-Titel warten muss. Und zu Ostapenko: „Was du geleistet hast, ist einfach erstaunlich. Genieß’ es wie ein Kind“.
Ostapenko kletterte von Platz 47 auf zwölf und schwang sich mit ihrem Power-Tennis zur Hoffnungsträgerin der Szene auf. In Lettland wurde sie überschwänglich bejubelt. „Ostapenko erschüttert die TennisWelt“, schrieb die Zeitung „Diena“. Einige tausend Fans hatten sich rund um das Freiheitsdenkmal in der Hauptstadt Riga versammelt, um das Finale zu verfolgen. „Harte Arbeit, Charakter und Kampfgeist. Das ist unsere Jelena Ostapenko! Ich bin stolz!“, twitterte Staatspräsident Raimonds Vejonis. Regierungschef Maris Kucinskis war offenbar nahe daran abzuheben: „Lettland kann jetzt auch als Tennisgroßmacht bezeichnet werden.“
Bei ihren Kolleginnen ist die eigenwillige Powerspielerin allerdings nicht durchweg beliebt. Die „L'Equipe“nannte sie nicht nur „Miss 100 000 Volt“, sondern auch „Pest“. Im vergangenen Jahr hatte Ostapenko in Auckland den Schläger durch die Gegend gefeuert, der dann einen Balljungen traf. Vergessen.