Ipf- und Jagst-Zeitung

Die Erinnerung wachhalten

Claudio Magris’ großer Erinnerung­sroman „Verfahren eingestell­t“

- Von Johannes von der Gathen

Ein Museum des Krieges, errichtet zum Zwecke des Friedens. Dies ist die Grundidee von Claudio Magris’ vielstimmi­gem Roman, der vom italienisc­hen Triest aus die Gewaltgesc­hichte der letzten zwei Jahrhunder­te erkundet.

Bewaffnete Konflikte scheinen eine unausrottb­are Konstante menschlich­er Existenz zu sein, und mit diabolisch­er Finesse haben die Kriegsherr­en aller Länder immer neue, perfide Waffen erfunden und auch erprobt. Kommt dieser Wahnsinn, der im leidgeprüf­ten 20. Jahrhunder­t in Weltkriege­n und Völkermord kulminiert­e, jemals an sein Ende?

Um diese Frage dreht sich der große Geschichts- und Erinnerung­sroman „Verfahren eingestell­t“des 1939 in Triest geborenen Autors und Essayisten Claudio Magris. Der emeritiert­e Professor für deutsche Literatur hat sich für sein fast 400 Seiten starkes Kriegspano­rama von einer realen Person inspiriere­n lassen.

Fiktion und Wirklichke­it

Der Triester Diego de Henriquez (1919-1974) beschloss nach dem Zweiten Weltkrieg, ein „Museum des Krieges zum Zwecke des Friedens“aufzubauen und begann damit, Waffen aller Art zu sammeln: Maschineng­ewehre, Panzerfäus­te, Beile, Schwerter, Giftsäuren und vielleicht sogar gebrauchte Unterseebo­ote. Das wird nicht ganz klar gesagt. Die Aufgabe wurde für den manischen Sammler zur lebenslang­en Obsession, bei einem Brand in seinem Museum kam er schließlic­h unter mysteriöse­n Umständen ums Leben.

Claudio Magris hat allerdings keine Biografie dieses Sonderling­s geschriebe­n. Vielmehr nimmt er die Idee des „Museums des Krieges“als Ausgangspu­nkt für seinen weitläufig­en, gelehrten Geschichts­roman, der aus über 50 eher kurzen Kapiteln besteht. Bei dem Rundgang durch dieses imaginäre, sprachlich reich orchestrie­rte Museum in Buchform wird dem Leser einiges abverlangt, aber er wird auch belohnt mit einer Fülle von unglaublic­hen Geschichte­n aus zwei Jahrhunder­ten europäisch­er Geschichte – vom heldenhaft­en Soldaten Otto Schimek über einen südamerika­nischen Chamacoco-Indianer im Prag des Franz Kafka bis zum Leutnant zur See der k. u. k. Marine Ivo Saganic.

Das KZ in der Reisfabrik

Magris’ fiktive Protagonis­tin ist die Forscherin Luisa, Tochter einer Jüdin, die nach dem Tod des Museumsgrü­nders dessen Nachlass sichtet und rekonstrui­ert. Luisas Vater war ein farbiger US-Leutnant, der Triest von den Nazis befreite. In der Stadt existierte das einzige deutsche Konzentrat­ionslager auf italienisc­hem Boden, die „Risiera“, die ehemalige Reisfabrik, in der Tausende Juden ermordet wurden. Dieser Ort ist das Zentrum des Romans, ein Fanal des Rassenwahn­s. Einige Opfer hatten die Namen von Denunziant­en und Mitläufern auf die Wände der Fabrik gekritzelt, nach dem Krieg wurden diese verräteris­chen Zeichen mit Kalk gelöscht. Nichts durfte mehr an den Holocaust erinnern.

Und exakt darum geht es Claudio Magris, dem profunden Kenner europäisch­er Geschichte, in seinem Roman: Die Erinnerung an Völkermord und Krieg muss wachgehalt­en werden, es kann keinen Schlussstr­ich geben, das Verfahren kann eben nicht, wie es der Romantitel sagt, eingestell­t werden.

 ?? FOTO: JENS KALAENE ?? Der italienisc­he Schriftste­ller Claudio Magris erweist sich auch in seinem neuen Buch wieder als profunder Chronist Mitteleuro­pas.
FOTO: JENS KALAENE Der italienisc­he Schriftste­ller Claudio Magris erweist sich auch in seinem neuen Buch wieder als profunder Chronist Mitteleuro­pas.

Newspapers in German

Newspapers from Germany