Unbequeme
Sie steht für die Synthese zwischen Demokratie und Religion in der Türkei: Nazli Ilicak, 72 Jahre alt, verteidigte als Politikerin das Recht der Türkinnen auf das Kopftuch und als Journalistin den heutigen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Sie kandidierte für Erdogans Partei AKP und vertrat mit ihrer westlichen Lebensweise den liberalen Flügel der Islamisten. Doch heute sieht Erdogan in Ilicak eine Verräterin. Nach elf Monaten Haft trat die Grande Dame der türkischen Islamisten jetzt vor den Richter: Mit dem Vorwurf, sie sei in den Putschversuch von 2016 verwickelt gewesen, soll sie mundtot gemacht werden.
Ilicaks Stern ging im Jahr 1999 auf, als die erste Frau im Kopftuch im türkischen Parlament auftauchte. „Hinaus, hinaus, hinaus“, skandierten die damaligen Regierungsfraktionen, bis die Politikerin Merve Kavakci den Saal verließ. Nur ein Parlamentsmitglied hatte den Mut, der jungen Frau zur Seite zu stehen. Das war Nazli Ilicak, damals Abgeordnete der islamistischen Tugendpartei.
Lange war Ilicak denselben Weg gegangen wie Erdogan, aber nie im Gleichschritt. So ging sie 1999 für die Islamisten ins Parlament, als er hinter Gittern saß. Und als er 2001 die AKP gründete, war die Tugendpartei verboten und Ilicak vom Verfassungsgericht mit einem politischen Betätigungsverbot belegt worden. Das Politikverbot wurde vom Europäischen Menschenrechtsgericht kassiert, doch Ilicak begleitete den Aufstieg der Islamisten fortan außerhalb des Parlaments als prominente Intellektuelle. Sie schreckte nicht vor Tadel für Erdogan zurück, wenn sie das für angebracht hielt.
Die Rache ihrer Ex-Weggefährten ist fürchterlich. Kurz nach dem Putschversuch wurde Ilicak wegen Mitgliedschaft in der „Gülen-Terrororganisation“verhaftet. Zusammen mit ihr sind heute 16 weitere Journalisten wegen Beihilfe zum Umsturz angeklagt – ihnen drohen jeweils bis zu 15 Jahre Haft.
Susanne Güsten Die türkische Staatsmacht wirft der Journalistin Nazli Ilicak terroristische Aktivitäten vor.