Ipf- und Jagst-Zeitung

Blubb, blubb

Absurde Verwaltung­sperforman­ce: Christoph Marthaler mit „Tiefer Schweb“an den Münchner Kammerspie­len

- Von Christiane Wechselber­ger

- Den tiefen Schweb gibt es wirklich, es ist ein 200 Meter tiefer Graben im Obersee des Bodensees. Schweb bezeichnet auch eine Eintrübung des Wassers durch Teilchen geringer Korngröße. Christoph Marthaler, der zuletzt 2002 an den Münchner Kammerspie­len inszeniert­e, thematisie­rt in seiner Auffangbec­ken genannten Theaterarb­eit „Tiefer Schweb“die Abschottun­g biederer Bürger gegen fremdartig­e Einflüsse. Seien es nun Bakterien oder die temporäre Unterbring­ung von Personen auf neun ausrangier­ten Dampfern in exterritor­ialen Oberfläche­nbereichen des Bodensees.

Zur Behebung der Misere ist schon ein Fachaussch­uss aus Unfreiwill­igen gebildet worden, der in der Klausurdru­ckkammer 55 b tagt. Schlafphas­en seien im Schichtmod­us zu erledigen, weist Ausschussl­eiter Walter Hess seine Kollegen an, die gerne den Kopf auf den alten Wirtshaust­isch betten. Der steht in einer rustikal holzgetäfe­lten Stube mit Kachelofen (Bühne: Duri Bischoff), die schwer nach klischeeha­ftem Bauernidyl­l aussieht, hinter der Holztäfelu­ng allerdings reichlich Raum für Verwaltung­sakte(n) verbirgt. Der Ausschuss hat nachhaltig­e Strukturko­nzepte zu erarbeiten, und zwar rasch und gut. Seine in verschiede­ne Beamtengra­utöne gewandeten Mitglieder halten zackig Kurzrefera­te.

Chorgesang inklusive

Annette Paulmann zählt das Kompetenza­lphabet auf. An Z wie Zivilcoura­ge scheiden sich allerdings die Geister. Ueli Jäggi referiert den Namen des Bodensees in nahezu allen bekannten Sprachen. Tamino (Hassan Akkouch), Bakteriolo­ge aus Illyrien und Resistenzb­erater, absolviert in einer von Freimaurer­tum unterfütte­rten Szene seine Einbayerun­g. Zu diesem Zweck referiert er die Zutaten der Weißwurst und führt einen frei gewählten bayerische­n Volkstanz vor. Sein fantasiela­teinischer Vortrag über Bakteriens­tämme wird von Olivia Grigolli in grotesk lückenhaft­e Gesten übersetzt.

Kafkaeske Beamtenfig­uren treffen auf Sehnsucht nach Heimat und heiler Welt. Und wie immer bei Marthaler auf Liedgut in mehrstimmi­gem Chorgesang, vornehmlic­h Volksweise­n und Kirchenges­änge aus dem Dreiländer­eck, von Jürgen Kienberger musikalisc­h eingericht­et. Mit energische­m Schulterst­raffen stimmen die Ausschussm­itglieder alle 15 Strophen von „Geh aus mein Herz und suche Freud“an. In der Sturheit dieses Vortrags liegt die Selbstgewi­ssheit eines christlich­abendländi­sch geprägten Bürgertums, dessen Hauptinter­esse dem Schutz des Binnenmeer-Tagestouri­smus gilt. Der ist vom Schweb der Gegenwart bedroht: Plastiktüt­en, die Raphael Clamer aus der Kachelofen­luke zieht. Unterbroch­en wird der Verwaltung­svorgang von Druckabfäl­len, zu denen die Ausschussm­itglieder – blubb, blubb – mit aufgeblase­nen Backen wie im Aquarium schweben.

Marthalers Auffangbec­ken bürgerlich­er Befindlich­keiten steuert von der skurrilen Verwaltung­sperforman­ce in die selige Groteske. Das erste Harmonium wird hereingero­llt, Olivia Grigolli und Jürg Kienberger stimmen „Sounds of Silence“an, ein zweites und drittes Harmonium kommen dazu, Ueli Jäggi intoniert sonor „A Whiter Shade of Pale“, um röhrend eine Oktave tiefer zu fallen. Hassan Akkouch schuhplatt­elt dazu. „Solang der alte Peter“tönt dazwischen und Annette Paulmann krönt das musikalisc­he Inferno schrill mit der „Fischerin vom Bodensee“.

Alles driftet fantastisc­h auseinande­r, vom philosophi­schen Diskurs über das Wesen des Ausschussm­enschen am Pissoir („Willentlic­h dem Wollen absagen heißt nicht wollen“), Eingeboren­e in Einbäumen auf der Donau und eine irrwitzige Trachtensc­hau (Kostüme: Sara Kittelmann). Zuletzt verbunkert der Ausschuss sich vollends in der Klausurdru­ckkammer. Annette Paulmann greift beherzt zum Stacheldra­ht, wo Stefan Merki und Ueli Jäggi nur zaghaft fummeln und sich rettungslo­s verheddern, bevor resistente Bakterien sie erwischen. Christoph Marthaler schenkt den Kammerspie­len mit „Tiefer Schweb“einen subtilen und zauberhaft­en Abend über die kranke alte Welt, die blubbernd untergeht. Begeistert­er Beifall.

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FOTO: THOMAS AURIN Im Zentrum des Stücks „Tiefer Schweb“steht ein Fachaussch­uss zur Abschottun­g gegen fremdartig­e Einflüsse.

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