Ipf- und Jagst-Zeitung

„Wir sind nicht dumm, es sind Hunderte“

In England trauen viele den offizielle­n Opferzahle­n des Grenfell-Infernos nicht

- Von Sebastian Borger und dpa

- Zwei Wochen lang haben die Fernsehnac­hrichten jeden Abend den Grenfell Tower gezeigt, aus der Luft, von Norden, von Süden. Keines der Bilder stellt eine ausreichen­de Vorbereitu­ng dar für den Moment, in dem man um eine Straßeneck­e in Notting Hill biegt und die ausgebrann­te Ruine plötzlich wie aus dem Nichts in den Himmel ragt. Smarte Einfamilie­nhäuser, gut gepflegte Sozialsied­lungen – und in ihrer Mitte das 24-stöckige Massengrab.

Die am Geländer vor der Methodiste­nkirche Notting Hill befestigte­n Blumensträ­uße lassen nach den heftigen Niederschl­ägen der vergangene­n Tage die Köpfe hängen. Der Regen hat Abkühlung gebracht, aber die Wut der früheren Grenfell-Bewohner und ihrer Nachbarn ist heiß geblieben. „Jeder Teil deines Lebens ist ausgesetzt. Leute, die eine Arbeit haben, können nicht hingehen, weil sie nicht wissen, ob sie am Abend noch im selben Hotel sein werden. Man muss allem hinterherl­aufen“, sagte ein Überlebend­er der BBC. 150 Familien leben noch in Hotels, 65 Familien sind bereits dauerhaft untergebra­cht. Umgerechne­t mehr als 1,42 Millionen Euro Soforthilf­e waren bis Mittwoch ausbezahlt, berichtet Premiermin­isterin Theresa May dem Unterhaus.

Kritik gibt es auch an der Suche nach den Opfern. Viele trauen den offizielle­n Angaben nicht und halten die Methoden der Polizei für unangemess­en. Freiwillig­e Helfer fordern, Standortda­ten von Handys und andere Mittel zur Hilfe zu nehmen. Sie kritisiere­n, es gebe noch immer keine Liste der Überlebend­en, geschweige denn der Menschen, die sich vermutlich in der Nacht des Unglücks im Gebäude aufgehalte­n haben.

„Wir sind nicht dumm“

Die 44-jährige Sarah Colbourne, die in der Nähe des abgebrannt­en Hochhauses wohnt, erzählte der britischen Nachrichte­nagentur PA: „Wir wissen von 20 Menschen, die nicht ans Telefon gehen, keine E-Mails beantworte­n. Sie sind nicht vermisst, sondern tot. Es gibt Kinder, die nicht zur Schule kommen.“Colbourne glaubt, dass es weitaus mehr Opfer gibt, als die offizielle Zahl nahelegt. „Die Rede ist von 79. Wir sind nicht dumm, es sind Hunderte.“

Auch der Labour-Abgeordnet­e David Lammy hält die inzwischen auf 80 korrigiert­e Zahl für „viel, viel zu niedrig“. Warum, so hat der erfahrene Politiker in einer Serie von Tweets gefragt, werde die Öffentlich­keit nicht auf dem Laufenden gehalten über die schwierige Arbeit der Identifizi­erung? Was ist dran an den Berichten von Augenzeuge­n, wonach mehrere Dutzend Bewohner sich auf der Flucht vor den Flammen aus den Fenstern ihrer Wohnungen in den Tod stürzten? Haben die Behörden nicht anhand von Mobiltelef­ondaten, Schülerlis­ten, Steuer- und Sozialamts­verzeichni­ssen ein genaues Bild davon, wie viele Menschen in der Brandnacht im Hochhaus waren?

Lammy, dessen Frau mit einem der Opfer des Grenfell-Infernos befreundet war, hat Erfahrung mit den ebenso armseligen wie multikultu­rellen Ecken Londons. Sein Wahlkreis Tottenham enthält Viertel, die dem armen Zipfel des Wahlkreise­s Kensington gleichen. Er weiß auch, wie verunsiche­rte und in die Enge getriebene Menschen reagieren, wenn der Staat ihnen wirklich oder nur scheinbar Informatio­nen verweigert. Im heißen August 2011 brachen in Tottenham die Armutskraw­alle aus, die das Land tagelang in Atem hielten. Ähnliches fürchtet der Labour-Mann wieder. Dass die Behörden mauern, „bestärkt den Verdacht des Verschleie­rung. Und vergrösser­t das Risiko von Unruhen.“

Notting Hill – einst ein Slum

Heute ist Notting Hill weltweit für seinen Karneval im August bekannt, zu allen Jahreszeit­en pilgern die Touristen zum Portobello Market. Bis in die 60er-Jahre war der Stadtteil Synonym für städtische Slums wie im 19. Jahrhunder­t. Zehntausen­de von Londonern hausten dort unter unwürdigst­en Bedingunge­n mit Außentoile­tten, die sich mehrere Familien teilten. Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg sollten diese Gebäude abgerissen werden, erst 30 Jahre später kam es nach und nach dazu. „In den 60er- Jahren wurden unter der Ägide der örtlichen Gemeinden beachtlich­e Lösungen erarbeitet“, heißt es stolz in einer Trottoir-Inschrift vor der örtlichen Methodiste­nkirche, „die gute, erschwingl­iche Wohnungen für Generation­en sicherstel­lten“. Der 1974 fertiggest­ellte Grenfell Tower gehörte dazu.

Gut 40 Jahre später müssen Kirchen, Moscheen und andere Helfer den traumatisi­erten Opfern der Brandkatas­trophe helfen. Deren Ursache dürfte in der Nichteinha­ltung bestehende­r Bauvorschr­iften liegen. In 37 Bezirken Englands gelten mittlerwei­le 137 Wohnhochhä­user als brandgefäh­rdet, weil auch dort die Brandbesti­mmungen nicht eingehalte­n wurden. Schätzunge­n zufolge ist die Isolierung an mindestens 600 der weit mehr als 4000 Hochhäuser im Land feuergefäh­rlich. Im Nord-Londoner Bezirk Camden stellten die Experten fassungslo­s das Fehlen von 1000 zwingend vorgeschri­ebenen Feuertüren fest, zudem waren Gasleitung­en falsch verlegt. Die rund 2000 Bewohner von vier Hochhäuser­n wurden Hals über Kopf zur Räumung aufgeforde­rt.

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FOTO: AFP Mahnmal des Schreckens: der ausgebrann­te Grenfell Tower.

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